Jens Balzer auf Lesereise in Italien
Über kulturelle Aneignung

Jens Balzer
© Roland Owsnitzki

Der deutsche Sachbuchautor und Journalist Jens Balzer stellte sein Buch „Ethik der Appropriation“, erschienen in der italienischen Übersetzung bei Castelvecchi, in Italien vor. Zunächst war er Gast beim Mailänder Literaturfestival Bookcity und reiste dann nach Neapel weiter.

Kulturelle Aneignung – sprich die Nutzung und Umarbeitung fremden traditionellen Wissens und Erbes zum Ausdruck der eigenen Identität – ist seit langem ein heißes Thema in der westlichen Debatte. Man kann „Kulturen“ nicht voneinander trennen, und man kann Kultur auch nicht als etwas Isoliertes oder Unveränderliches betrachten. Jens Balzer erläutert im Interview einige Schlüsselpassagen seines Denkens.

Von Angelo Bernacchia

Aus welchen Gründen steht Ihrer Meinung nach das Thema der kulturellen Appropriation immer häufiger im Fokus?

Kulturelle Aneignung wird kritisiert, wenn sich Angehörige einer – politisch, wirtschaftlich, militärisch – hegemonialen Kultur bei den Erzeugnissen einer anderen – marginalisierten, rassifizierten – Kultur bedienen, um daraus Profit zu schlagen. Dass diese Kritik immer häufiger geäußert wird und das Thema auf diese Art in den Fokus rückt, liegt schlicht daran, dass Angehörige marginalisierter Kulturen mehr Möglichkeiten haben, ihre Stimme zu erheben und ihr Ungenügen zu artikulieren. Was wiederum zu heftigen Gegenreaktionen führt: Anhänger des Status Quo klagen nun darüber, dass ihnen lieb gewordene Bilder, Verhaltenweisen, kulturelle Praktiken „verboten“ werden sollen. Dabei werden auch moderate Arten der Kritik als „Cancel Culture“ dargestellt, um „die Linke“ als Feindin der Meinungsfreiheit zu diskreditieren. So kommt es dazu, dass um Einzelfälle der kulturellen Aneignung symbolische Schlachten ausgetragen werden.
 
Warum sprechen wir zunehmend von kultureller Aneignung?  Und was sind die Unterschiede zwischen kultureller Aneignung und kultureller Enteignung?

Es kursieren viele verschiedene Begriffe: Aneignung, Enteignung, „cultural appreciation“ (Wertschätzung); oft kommt man in Debatten schon dadurch weiter, dass man klärt, wer überhaupt welche Begriffe mit welcher Bedeutung benutzt. Kulturelle Aneignung kann bereichernd sein (dazu weiter unten), aber sie kann auch den Charakter einer Enteignung annehmen, wenn sie falsche, stereotype Bilder einer Kultur in die Welt setzt, mit denen die Angehörigen dieser Kultur diskriminiert werden – oder die zumindest mächtiger sind als die Bilder der Realität. In Deutschland wird das Bild der „Native Americans“ in Nordamerika seit über hundert Jahren von den Fantasiebildern geprägt, die Karl May am Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Winnetou-Romanen entwarf – während es den realen Native Americans in Kanada und den USA gleichzeitig über Jahrzehnte hinweg verboten wurde, ihre kulturellen Traditionen zu leben und fortzuführen. Bei der Kritik kultureller Aneignung geht es immer auch darum, falsche Geschichtsschreibung zu korrigieren – und den Angehörigen einer Kultur die Möglichkeiten zu geben, die eigene Geschichte selber zu schreiben. Das wirft allerdings neue Probleme auf: Wie kann man überhaupt zwischen dem Eigenen und dem Fremden trennen? Lassen sich klare Trennlinien zwischen Kulturen ziehen? Oder geht man dann nicht in die Falle jenes identitären Denkens, mit dem sich konservative und rechtspopulistische Kreise ihre kulturelle Vorherrschaft sichern wollen?
 
Können Sie uns je ein aktuelles Beispiel für ‚gute und schlechte kulturelle Aneignung nennen?

Ich glaube nicht, dass man „gute“ von „schlechten“ Beispielen fein säuberlich trennen kann. Ich glaube aber, dass man genauer darauf reflektieren kann, welche Implikationen in kulturellen Aneignungen stecken. Eine „gute“ Art der Aneignung wäre meines Erachtens eine solche, die um die Geschichte und die Komplexität der angeeigneten Kultur weiß – und auch um die historischen und politischen Kämpfe, die sich in bestimmten Symbolen oder künstlerischen Traditionen niederschlagen – und die daraus etwas Neues macht und zugleich den Menschen, von denen sie sich inspirieren ließ, ihren Respekt erweist. Ein Beispiel dafür aus dem Feld der Popmusik: In Deutschland gibt es eine wachsende Szene von DJs und Klubs, in der aktuelle afrikanische Dancefloor-Musik gefeiert wird, Amapiano, Gqom usw. Viele DJs, die diese Musik spielen, tun dies nun mit den afrikanischen Pionieren gemeinsam, laden sie auf Festivals ein, engagieren sich dafür, dass sie Auftrittsmöglichkeiten in Deutschland bekommen, und das heißt auch: Aufenthaltsgenehmigungen und Visa – was gerade für queere afrikanische Menschen, die in ihren Heimatländern eskalierender Homophobie ausgesetzt sind, oftmals sehr schwierig, aber von großer Bedeutung ist. Ein Beispiel für eine „falsche“ Art der Aneignung: Der Superstar Beyoncé eignet sich für das aktuelle Album Renaissance die Musik queerer House-DJs aus Chicago an, ohne ihr künstlerisch irgendetwas hinzuzufügen – und gibt als erstes ein Konzert in dem radikal homophoben arabischen Emirat Dubai; sie verdient also eine Millionen-Gage an einem Ort, an dem die von ihr ausgebeuteten künstlerischen Pioniere um ihr Leben fürchten müssten, das ist respektlos und diskriminierend.
 
Sie schreiben im Buch: Eine Ethik der Aneignung sollte nicht die Form eines Verbots haben, sondern eher die Form eines Gebots: Eigne dir etwas an! Aber mach es gut! Wie ist Ihrer Meinung nach die korrekte Vorgehensweise?

Wenn ich das Verbot durch ein Gebot ersetzen möchte, dann weil es mir zunächst darum geht, darauf hinzuweisen, dass es keine Kultur gibt, die sich nicht aus dem Spiel von Aneignungen ergibt. Aneignung ist eine schöpferische Kraft, eine Kultur stiftende und den Blick erweiternde Kraft – und eine, die den Blick auf die Schönheit und die Komplexität anderer Kulturen öffnet. In vielen Arten der kulturellen Aneignung geht es aber zunächst um Komplexitätsreduktion: Man möchte sich kulturelle Symbole oder Praktiken aneignen, die man für ursprünglicher, authentischer, natürlicher als die eigenen hält, weil einem die eigene Kultur zu entfremdet, naturfern erscheint. Immer wieder taucht hier das Bild des „edlen Wilden“ auf, sei es in der Begeisterung für „Indianer“, für die spirituellen Praktiken von Yogi-Meistern, für „Tribal Tattoos“, Piercing oder ähnliches. Dies ist eng verbunden mit dem rassistischen Bild „primitiver Kulturen“ – so begeisterten sich die ersten weißen Jazzmusiker für die „Wildheit der Schwarzen“ und versprachen sich davon eine Belebung der eigenen Kunst –, aber auch mit der gegenwärtig unter postkolonialen Linken grassierenden Faszination mit vermeintlich „indigenen“ Kulturen. Hier würde ich sagen: „Falsch“ wird eine Aneignung, wenn sie in der angeeigneten Kultur nur etwas „Primitives“, Schlichtes, Authentisches sucht – und damit zugleich Stereotype vom Anderen zementiert. „Richtig“ wird eine Aneignung, wenn sie erkennt, dass jede, also auch die angeeignete Kultur komplex, kompliziert, historisch gewachsen, vielfältig und widersprüchlich ist – und in der Aneignung gerade diese Vielfalt und Komplexität zur Erscheinung gelangt.

Können Sie uns ein Beispiel für ‚schlechte‘ kulturelle Aneignung in der italienischen politischen oder kulturellen Landschaft nennen?

Ich bin mit den Debatten in Italien nicht vertraut genug, aber vielleicht darf ich die Frage umdrehen und über die kulturelle Aneignung des „Italienischen“ reden. Eine zentrale Form der kulturellen Aneignung in der deutschen Popkultur ist die Aneignung des „Italienischen“ in den 1950er- und 1960er-Jahren. Deutsche Sängerinnen und Sänger beschworen die alte Italien-Sehnsucht der Deutschen, sie mischten italienische Worte in ihre Texte, gaben sich manchmal selber als Italiener aus und entwarfen dabei das Stereotyp des fröhlichen, sorglosen, aber auch etwas arbeitsscheuen, unzivilisierten und dümmlichen Italieners. Es sah so aus, als ob die Deutschen genau so wie die Italiener sein wollten – aber so, wie sie in den kulturellen Aneignungen das Stereotyp des Italienischen konstruierten, blickten sie zugleich darauf herab. Diese Welle ebbte in den Siebzigerjahren ab –und jetzt ist sie plötzlich zurück. Die deutsche Hitparade ist voll mit Gruppen (zum Beispiel „Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys“ mit Hits wie Mille Grazie), die in vermeintlich ironischer Weise die alten Klischees wieder beleben. Ihnen geht es weniger um Italien, sondern vielmehr um Nostalgie für die „guten alten Zeiten“, als man in Deutschland noch ganz unwidersprochen ethnische Klischees aller Art aufrufen durfte. Obwohl sie sich links und hip geben, teilen sie damit die Strategie der rechten Kulturkämpfer – notdürftig kaschiert von der ironischen Haltung.


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Ethik der Appropriation (Matthes & Seitz, 2022) wurde von Massimo De Pascale ins Italienische übersetzt und erschien im Oktober 2023 als Etica dell’appro­priazione bei Castelvecchi mit Unterstützung des Programms für Übersetzungsförderung Litrix.de: Fokus Italienisch 2022 bis 2024.

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