Fit bleiben mit Kafka
Zum 100. Todestag: Kafka ironisch lesen

Franz Kafka in Venedig
Franz Kafka in Venedig | Foto (Zuschnitt): © Verlag Klaus Wagenbach

Das Gefühl von Furcht und Ohnmacht von Gregor Samsa in der „Verwandlung“, einer Schabe, die auf dem Rücken gelandet ist und, unfähig, sich zu rühren oder um Hilfe zu rufen, im Zimmer festsitzt: Das ist üblicherweise unsere erste Assoziation mit Franz Kafka und seinen Werken. Und doch können wir auch einen unüblichen, ironischen Weg einschlagen zwischen den Briefen, Erzählungen und Romanen des böhmischen Schriftstellers, dessen 100. Todestag wir dieses Jahr feiern und dessen Wünsche wir – damals wie heute – missachten, indem wir immer wieder seine Texte lesen, die er selbst mit seinem Ableben vernichtet wissen wollte. Wenn es uns gelingt, Kafka mit einer gehörigen Portion Ironie und Leichtigkeit zu lesen, kann dieser Weg unser Wohlbefinden verbessern, sowohl körperlich als auch geistig. Und uns damit bewahren vor Diäten, Fastenkuren, sportlichen Anstrengungen, endlosen Wiederholungen von Übungen und überhaupt allem Unliebsamen, seien es geisttötende Jobs oder nervenaufreibende Familien.

Von Marianna Albini und Leonardo Merlini

Der ideale Weg zur körperlichen Topform

Es gibt eine 1922 veröffentlichte Erzählung von Franz Kafka, die im Italienischen unter dem Titel Un digiunatore, also wörtlich ‚Ein Fastender‘, bekannt ist. Tatsächlich verrät uns der Originaltitel, Ein Hungerkünstler, aber schon etwas mehr über die verzweifelten, letztlich zum Scheitern verurteilten Bemühungen des Titelhelden, der, einstmals sehr beliebt, mittlerweile auf so wenig Interesse stößt, dass er zur Nebenattraktion in einem drittklassigen Zirkus abgestiegen ist. Wenn Sie schon einmal auf Diät waren – und wer war das nicht –, dann kann Ein Hungerkünstler Ihnen helfen, Ihre Ironie wiederzufinden und vor allem dem endlosen Gerede über die Diät einen Riegel vorzuschieben: Behalten Sie die Einzelheiten Ihres Ernährungsplans für sich, zitieren Sie Kafka und gerieren Sie sich als Hungerkünstler*in. Erzählen Sie von Ihren vergangenen Ruhmestaten, wie damals die Schaulustigen Schlange standen, um Sie hungern zu sehen, und wie leicht es Ihnen fiel. Schildern Sie sich einfach als in Ihrem Fasten von einer literarischen Flamme beseelt, und Sie werden garantiert nicht mehr durch nutzlose Unterhaltungen über Chiasamen und tägliche Flüssigkeitsmengen behelligt. Noch eine Empfehlung: Seien Sie nicht so konsequent wie der Protagonist der Erzählung und hören Sie auf, bevor diese ganze Schar von Verehrer*innen Ihnen zu Kopf steigt und Sie am Ende spindeldürr und unsichtbar werden, ohne dass irgendjemand wirklich Notiz von Ihnen nimmt.

Der geistigen Gesundheit etwas Gutes tun

Neben der körperlichen Gesundheit gibt es natürlich auch noch die geistige: Kafka hat nichts dem Zufall überlassen, und Situationen, die uns die Mühen des Daseins vor Augen führen können, sind in seinen Werken – euphemistisch ausgedrückt – zahlreich. Es lohnt daher als mögliche Verschreibung, als Allheilmittel für jede Gelegenheit, der Hinweis auf jene Werke Kafkas, die Ihnen in einer schwierigen Lage am ehesten helfen können – oder Sie endgültig zur Verzweiflung treiben.
Für die Tage, an denen wir uns selbst nicht leiden können und alles falsch zu laufen scheint, ist der Vergleich mit der Vorstellung, wie Gregor Samsa als Ungeziefer zu erwachen und im eigenen Zimmer gefangen zu sein, unschlagbar: Lesen Sie also Die Verwandlung. Oder haben Sie mit Mobbing am Arbeitsplatz, unmöglichen Kolleg*innen, endloser Bürokratie zu kämpfen? Nichts besser als Das Schloss, wo niemand den Landvermesser K. brauchen kann, obwohl er bestellt worden ist, und wo die Feindseligkeit und das Misstrauen, mit denen man ihn empfängt, der besten Mobbingversuche würdig sind. Wenn es Ihre Eltern, Ihre Vergangenheit oder Schuldgefühle sind, die Sie plagen, lesen – oder schreiben – Sie den Brief an den Vater. Gegen Liebeskummer, vor allem wenn ein schlimmes Ende absehbar ist, gibt es Franz Kafkas Briefe an Milena Jesenská, eine Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin, die Kafka 1920 kennenlernte und in die er sich Hals über Kopf verliebte. Sie sind eine Hymne auf das Verliebtsein, auf das Verlangen, auf das Leben. Oder aber, wenn Sie derzeit oder irgendwann einmal oder schon Ihr ganzes Leben lang danach trachten, die höheren Mächte oder „das System“ zu bekämpfen, oder wenn Sie einfach nur Ihre Strom- und Gasverträge ändern möchten, gibt es keinen besseren Einstieg als Vor dem Gesetz mit dem Anfangssatz: „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.“ Viel Glück.

Auf den eigenen Stärken beharren, auch wenn es keine sind

Ein letztes Werk könnte Ihnen noch von Nutzen sein. Der Ratschlag ist gewagt und ein wenig verrückt (wie übrigens diese Lesart für Kafkas Werke generell): Warum nicht darauf beharren, was Sie für Ihre Stärken halten, womöglich entgegen jeder Logik? Machen Sie es wie die Mäuseprotagonistin in Franz Kafkas letzter Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, die mit ihrem Gesang ein ganzes Volk bezaubert, obwohl sie in Wahrheit gar nicht singt, sondern nur quiekt. Tun Sie das mit Überzeugung, beinahe mit Überheblichkeit. Wer weiß, vielleicht läuft es für Sie ja wie für Josefine, der alle verfallen: „Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt …“ Eine seltsame Verzauberung des Lebens – eine der vielen, von denen Franz Kafka uns erzählt.

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