Öffentlicher Raum
„Der Radverkehr ist ein Seismograf der Urbanität“

Der Bahnhofsvorplatz der Nørreport Station in Kopenhagen, Dänemark.
Der Bahnhofsvorplatz der Nørreport Station in Kopenhagen, Dänemark. | Foto (Zuschnitt): © Rasmus Hjortshøj – COAST

Wie sieht der Stadtverkehr der Zukunft aus? Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt zeigt mit der Ausstellung „Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt“, warum am Fahrrad kein Weg vorbeiführt.

Von Judith Reker

Weltweit werden Städte größer und enger: Seit 1950 hat sich die Stadtbevölkerung verdoppelt, seit 2007 lebt über die Hälfte der Menschheit in urbanen Zentren. Nach Schätzungen der UN werden es 2050 zwei Drittel sein. Damit das Stadtleben lebenswert bleibt, braucht es viel Raum – Plätze, Grün- und Freiflächen. Doch gerade die Verkehrswege der oft alten Stadtzentren stoßen schon jetzt an ihre Grenzen. Die Ausstellung Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt des Architekturmuseums in Frankfurt zeigte am Beispiel von Städten wie Kopenhagen, New York, Karlsruhe und Oslo, wieso das Fahrrad das Verkehrsmittel der Zukunft sein könnte. Ein Gespräch mit den Kuratorinnen Annette Becker und Stefanie Lampe.
 
„Die Rückeroberung der Stadt“ – dieser Untertitel klingt, als ginge es darum, einen Zustand wiederherzustellen, den es einmal gegeben hat. Liegt unsere Zukunft etwa in der Vergangenheit? 
 
Annette Becker: „Rückeroberung“ bezieht sich im Wesentlichen auf das Platzangebot. Ich habe kürzlich ein Ölgemälde aus dem 19. Jahrhundert gesehen, darauf war eine Straße in Paris abgebildet, die heute noch benutzt wird. Auf dieser großen Straße fuhr eine Kutsche. Eine einzige. Für dieses Verkehrsaufkommen am Ende des 19. Jahrhunderts sind viele unserer Straßen angelegt. Aber in der Zwischenzeit hat sich natürlich viel verändert. Insofern geht es um eine Rückeroberung, nämlich des Platzes. 
 
Die Verkehrsforscherin Barbara Lenz hat geschrieben, „Rückeroberung“ klinge fast nach einem Feldzug.
 
Becker: Es geht uns nicht darum, Lobbyarbeit für den Radverkehr zu machen. Aber uns ist etwas Entscheidendes aufgefallen, als wir die vielen internationalen Projekte zu einer zeitgemäßen Mobilität durchgeschaut haben: Der Radverkehr ist ein Seismograf der Urbanität. Wenn man in einer Stadt gut Rad fahren kann, wenn es also gute Radwege und auch genug Grünflächen gibt, dann ist das ein Hinweis auf eine Stadt, die eine hohe Lebensqualität besitzt. Deswegen scheint es uns sinnvoll, diese radgerechte Stadt zu forcieren.
 
Wie ist die Stimmung dazu in der deutschen Gesellschaft: Besteht ein Konsens, dass ein fahrradgerechter öffentlicher Raum das ist, was wir haben wollen?
 
Becker: Es ist ein Thema, was nicht jeden unmittelbar interessiert. Viele Menschen sind vor allem daran interessiert, wie sie ihre ganz persönliche Mobilität gut hinkriegen. Aber so können Sie natürlich keine Stadt, kein Gemeinwesen entwickeln. Ich würde sagen, es besteht Konsens, dass wir unsere Mobilität in irgendeiner Weise verbessern müssen – spätestens dann, wenn man jeden Morgen in einem langen Stau in die Stadt hineinfahren muss. 
 
Stefanie Lampe: Hinzu kommt: Die meisten Städte wachsen, das 21. Jahrhundert wird auch das Jahrhundert der Städte genannt. Jeder im eigenen Auto – das ist beim heutigen Verkehrsaufkommen einfach keine Option mehr. Zahlreiche Bürgerinitiativen wie die sogenannten Radentscheide zeigen, dass immer mehr Leute feststellen: Da muss etwas getan werden. Bei den Radentscheiden in verschiedenen deutschen Städten fordern engagierte Bürger eine Verbesserung des Radverkehrs. In Berlin wurde bereits erreicht, dass es ein erstes Radgesetz gibt. Es wurde 2018 beschlossen und legt fest, dass die Stadt den Radverkehr fördern muss. 
 
Becker: Es geht uns nicht darum, die Autos zu verteufeln. Uns ist an einer friedlichen Koexistenz gelegen. Aber das entscheidende Moment dieser friedlichen Koexistenz sind unsere Straßenräume – und die können Sie nicht vergrößern. 
 
Welche Argumente neben dem Platzproblem sprechen noch für das Fahrrad?
 
Becker: Es ist schnell und unkompliziert, und es macht Spaß. 
 
Lampe: Es ist gesund und leise. Und schließlich: die Umwelt. Allerdings ist der Umweltaspekt nicht der, der die Leute aufs Fahrrad bringt. Das zeigen Umfragen in Fahrrad-Städten wie Groningen und Kopenhagen: Die Leute nehmen das Rad, weil es – zumindest auf kürzeren Strecken – das schnellste und praktischste Verkehrsmittel ist. 
 
Sprechen wir über Ästhetik: Wird das Stadtbild schöner, wenn der öffentliche Raum stärker durch das Rad geprägt ist? 
 
Lampe: Wir denken, dass der öffentliche Raum auch schöner wird, ja. Ich glaube, wir haben gute Beispiele gefunden, die das demonstrieren. Als Architekturmuseum war uns natürlich wichtig, auch gestalterisch hochwertige bauliche Projekte zu zeigen.
 
Gibt es unter den acht für die Ausstellung ausgewählten Beispielen aus Europa und einigen anderen Regionen eins, dessen Ästhetik Sie persönlich besonders begeistert?
 
Lampe: Barcelona.
 
Becker: Barcelona. Der Boulevard Passeig de St. Joan ist einfach unglaublich. Bei diesem Projekt gehen Stadtplanung, Verkehrsplanung und vor allem die Landschaftsarchitektur beispielhaft zusammen und schaffen neue qualitätsvolle Aufenthaltsräume. Mit vielen Sitzgelegenheiten, neuen Grünflächen und Spielplätzen wird der öffentliche Raum für alle aufgewertet, nicht nur für Radfahrer. Es gibt Städte, die in gestalterischen Fragen immer ganz vorn mitspielen und Barcelona gehört auf jeden Fall dazu. 
 
Der Begriff „öffentlicher Raum“ ist in Deutschland auch philosophisch besetzt. Philosophen wie Jürgen Habermas und Hannah Arendt haben Öffentlichkeit unter anderem als politischen Faktor untersucht. Einfacher gefragt: Wenn weniger Menschen in Autos, also in ihren eigenen vier Wänden abgeschottet durch die Gegend fahren, was bedeutet das für gesellschaftliche Kommunikation? 
 
Lampe: Wir sehen definitiv das Potenzial für eine Veränderung. Das Fahrrad ist eben auch ein soziales Verkehrsmittel. Mit dem Rad bin ich nicht in einer stählernen Kapsel unterwegs, sondern ich interagiere mit dem Raum und den Menschen um mich herum. Ich erfahre, im wörtlichen Sinn, den Stadtraum anders, nehme ihn anders wahr. Das hat auch mit der veränderten Geschwindigkeit zu tun: Je schneller ich einen Raum durchquere, desto weniger nehme ich von ihm wahr. 

 

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