Europas Geografie und transnationale Identitäten nach 1989
Weißt du noch… die Mauer?

Weißt du noch... die Mauer?
Weißt du noch... die Mauer? | © Goethe-Institut Italien

Weißt du noch… die Mauer? Die vom Goethe-Institut im Rahmen der Reihe „Auf dem grünen Sofa“ veranstaltete Diskussion im Konferenzsaal in der Via Savoia ist gut besucht. Zusätzliche Stühle und Zuhörer auf Stehplätzen bezeugen – einmal mehr – von welch epochaler Bedeutung der Berliner Mauerfall war und wie stark sich die Ereignisse des 9. November 1989 in unser Bewusstsein eingebrannt haben. So stark, dass wir noch heute, Jahrzehnte später, mehr über ihre Folgen erfahren wollen. Angefangen bei der Auflösung der politischen Grenze zwischen Ost- und Westeuropa.

Journalist Matteo Tacconi, der das Gespräch zwischen Lucio Caracciolo, Herausgeber der italienischen Zeitschrift für Geopolitik Limes, und Außenpolitik-Analyst Ulrich Speck moderiert, hält diesen Aspekt gleich zu Beginn fest. „In unserer Zeit ist das Wort ‚Mauer‘ ein Schlüsselwort“, meint Tacconi. „28 Jahre sind vergangen, eine neue Generation ist herangewachsen, und noch immer sprechen wir über die Mauer, über den Fall der Mauer von Berlin. 28 Jahre danach wird in Deutschland noch immer bei allen Ereignissen, die in journalistischen Diskussionen analysiert werden, Bezug zum Mauerfall genommen. Ulrich Speck, ich möchte Sie fragen, inwieweit dieses Ereignis noch immer im Denken der Deutschen präsent ist und in welcher Form es sie beeinflusst.“ Die Antwort von Speck lenkt unseren Blick sofort Richtung Osten. „Der Fall der Mauer ist definitiv Zeitgeschichte und seine Folgen sind bei uns in Deutschland bis heute zu spüren“, so Speck. „Deutschland ist größer geworden, hat seine Beziehungen zu Osteuropa deutlich ausgebaut. Mit dem Mauerfall haben wir in Richtung Osten in wirtschaftlicher Hinsicht zweifellos eine Öffnung erlebt. Und in politischer Hinsicht, das haben wir auch bei den letzten Wahlen gesehen, finden wir im ehemaligen Ostdeutschland Parallelen zu Polen und Ungarn.“

Die Verlagerung des Schwerpunkts – Deutschlands Stärken und Grenzen

Deutschland verlagert seinen Schwerpunkt also Richtung Osten, merkt Tacconi an, schafft es aber zugleich, seine alten Verbindungen zu Westeuropa aufrechtzuerhalten. Tacconis diesbezügliche Frage an Lucio Caracciolo ist sehr direkt formuliert: Wo liegen heute, auf europäischer Ebene, Deutschlands Stärken und seine Grenzen?
Für seine Antwort holt Caracciolo weit aus und zitiert eine alte Anekdote des damaligen polnischen Präsidenten Lech Walesa: „An eben jenem 9. November 1989 waren Kanzler Kohl und Außenminister Genscher offiziell in Warschau zu Besuch und Walesa meinte zu ihnen, sie sollten sich auf den Fall der Berliner Mauer vorbereiten. Genscher antwortete darauf, dass ihnen das durchaus gefiele, aber wohl erst Kakteen auf ihren Gräbern wachsen würden, bevor es soweit käme. Noch am selben Abend mussten Kohl und Genscher übereilt nach Deutschland zurückkehren. Damit will ich sagen, dass in Deutschland wirklich niemand mit dem Fall der Mauer gerechnet hat. Die Reaktionen der europäischen Staats- und Regierungschefs fielen panisch aus – vor allem in Frankreich, wo ‚es nie genug Deutschlands geben konnte‘. Viele sahen oder befürchteten die Geburtsstunde eines neuen großen Deutschlands, und so war der 9. November vor allem von Zeichen mangelnder Vorbereitung und Angst geprägt. Heute ist Deutschland Nation Nummer eins in Europa. Zuallererst in wirtschaftlicher Hinsicht, aber auch gesamtheitlich betrachtet. Egal um welches Thema es sich handelt, Deutschland hat stets das erste und das letzte Wort. Aber deshalb bereits zu behaupten, es existiere eine Art deutsche Hegemonie oder Teilhegemonie, wäre zu weit hergeholt. Zunächst aus dem Grund, dass vor allem die Deutschen selbst dieses Wort scheuen. Und dann auch, weil Deutschland de facto kein Hegemonialstaat ist, wie es etwa die Vereinigten Staaten sind. Das zeigt sich beispielsweise in der deutschen Politik, die auf einen enormen Handelsüberschuss setzt und damit gänzlich im Gegensatz zur Schuldenpolitik der USA steht, die wiederum für einen Hegemonialstaat absolut typisch ist.“

Wille zu Europa, Wille zur Einheit

Angesichts der Tatsache, dass die Verlagerung der Interessen Deutschlands Richtung Osten sowie seine tatsächliche bzw. vermeintliche Vorherrschaft auch die Europäische Union betreffen, bringt Tacconi die neuen Mitgliedsstaaten im Osten Europas ins Gespräch. „Ich habe 2003/2004 begonnen, über Zentraleuropa zu berichten“, meint er. „Damals war die Lust auf Europa groß und Deutschland spielte eine entscheidende Rolle beim Übergang dieser Länder zur Demokratie. Heute hingegen ist die Begeisterung verschwunden und wir beobachten einen gewissen Groll gegenüber Europa. Man fühlt sich besiegt, als Verlierer, man hat das Gefühl, dass die Dinge ‚besser hätten laufen können‘. Angesichts der wichtigen Rolle, die Deutschland bei der Europäisierung dieser Länder gespielt hat“, richtet Tacconi die Frage nun an Speck und Caracciolo, „ist es möglich, dass diese Deutschland heute nicht mehr als Anker, als Bezugspunkt sehen? Und dass sie in Bezug auf die Europäische Union ähnlich empfinden?“

Laut Speck liegen die größten Probleme im Verhältnis zur Europäischen Union. „Halten wir zunächst fest, dass die deutsche Wiedervereinigung notwendigerweise mithilfe der Europäischen Union und der NATO erfolgen musste. Und das mit Zustimmung von Gorbatschow persönlich. Nach Gorbatschow konnte Ostdeutschland der NATO durchaus beitreten, die Wiedervereinigung war für ihn hingegen nicht selbstverständlich – die wurde von Kohl vorangetrieben, auch aus wahltaktischen Gründen. In Folge führte die deutsche Wiedervereinigung dann zur EU-Osterweiterung. Natürlich wurden gewisse Themen damals noch nicht bedacht bzw. konnten noch gar nicht bedacht werden. Dazu zählt etwa die Flüchtlingsfrage, die heute eine ganze Reihe an Mechanismen in Gang gesetzt hat, die ihrerseits zu einer gewissen Krise des Systems geführt haben. In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass die Politik der 27 Mitgliedsstaaten nicht nur in diesem, sondern in allen Bereichen, stärker koordiniert werden sollte. Man sollte über die Nationalstaaten hinausdenken und wenn wir uns den Fall Katalonien ansehen, sollten wir verstehen, in welche Richtung die Europäische Union gehen muss. Jedenfalls spürt man in Deutschland einen gewissen Frust, was die osteuropäischen Staaten betrifft. Deutschland versucht dabei, das Zünglein an der Waage zu sein: zwischen Ländern wie Frankreich, die den Zustrom an Arbeitskräften aus diesen Ländern beschränken wollen, wie Macron gesagt hat, und den Ländern im Osten, die es leid sind, irgendwie als Länder ‚zweiter Klasse‘ betrachtet zu werden.“ Caracciolos Antwort ist deutlich kürzer. Ihm zufolge hat das Problem des fehlenden Willens zu einer stärkeren europäischen Einheit viel tiefere Wurzeln. Etwa im Fall Polens, wo man das Gefühl hat, eben erst von einem Joch befreit worden zu sein – jenem der Sowjetherrschaft, die mehrere Jahrzehnte gedauert hatte – und wo man die so hart erkämpfte Selbstbestimmung nicht wieder verlieren will.

Die EU neu denken

„Was könnte nun also die zündende Idee sein, um dem Projekt EU – das Mühe hat, sich neu zu denken und besser aufzustellen – neuen Schwung zu verleihen?“, hakt Tacconi nach. Vermitteln, nicht von oben befehlen, ist der Lösungsansatz von Speck. „Macron hat Berater, die erneut ein föderalistisches Europa sehen wollen, etwa in puncto Migration, aber niemand weiß, wie das umgesetzt werden soll. Eine Institution zu schaffen, so wie man das bisher gemacht hat, mit dem Gedanken, dass sie früher oder später schon erfolgreich sein wird, ist ein Weg, der nicht funktioniert. Denken wir etwa wieder an das Thema Migration. Die wahre Herausforderung liegt darin, eine gemeinsame Lösung zu finden, und zwar bevor eine Institution geschaffen wird. Darin, die herrschenden Spannungen (Migration, Euro, Terrorismus…) abzubauen und die Visionen der einzelnen Länder Stück für Stück zu verbessern.“

Die Ziele der EU zu klären, ist hingegen der Lösungsansatz von Caracciolo. „Das Problem sind die unterschiedlichen Interessen der 27 Länder“, so Caracciolo. „Und das ist bestimmt kein Problem, das gelöst werden kann, indem wir einfach neue Institutionen schaffen. Wir müssen den Mut haben, uns zu fragen, in welchen Punkten wir übereinstimmen und wo es Konflikte gibt und dann einen Kompromiss finden. Denn Visionen allein können Meinungsverschiedenheiten nicht auflösen. Als Erstes sollten wir zu verstehen versuchen, warum wir in einer Gemeinschaft sind und was die Ziele dieser Union sind. Zum heutigen Tag“, schließt er, „ist kein europäischer Politiker imstande, auf diese Frage eine Antwort zu geben.“