Einführung zur Debatte „Auf dem grünen Sofa“ vom 31.05.2018
1968 – Kritik an der modernen Welt

Luciana Castellina
Luciana Castellina | © Foto: Goethe-Institut / Carlotta Rauch

Das Jahr 1968, sein Erbe und seine Spuren fünfzig Jahre danach. Die vom Goethe-Institut organisierte Diskussionsreihe „Auf dem grünen Sofa“ geht weiter und mit ihr die Suche nach den Widersprüchen einer historischen Epoche. Zu Gast sind diesmal die Politikerin, Journalistin und Schriftstellerin Luciana Castellina sowie der Soziologe und Sachbuchautor Detlev Claussen, moderiert wird das Gespräch von Journalist Michael Braun.

Zur Einstimmung auf die für 31. Mai geplante Diskussion haben wir Luciana Castellina vorab um einen Kommentar zum Thema gebeten.

„Das Jahr 1968 lässt zahlreiche unterschiedliche Interpretationen zu. Es ist kein Zufall, sondern in gewisser Hinsicht gewollt, dass wir von ’68 nur den Teil behalten haben, der weniger Schmerzen verursacht, der schöner glänzt, den ‚Sex, Drugs and Rock’n’Roll‘-Teil, der das System nicht aus der Balance bringt oder daran rüttelt. Eben den Teil, der nicht weh tut. Der Rest wurde entsorgt. Eine ‚passive Revolution‘ hätte Gramsci das genannt. Dabei ging es ’68 um sehr viel mehr, es ging um eine Kritik an dem, was als Modernität präsentiert wurde. Das war der gemeinsame Kern. Die 60er-Jahre waren Jahre des Fortschritts in einer Welt, die gerade einen Krieg hinter sich gelassen hatte, und eben das führte zu neuen Konflikten. Zu Konsumismus, entfremdeter Arbeit, dem ökologischen Konflikt, dem Geschlechterkonflikt. Dann gab es noch weitere gemeinsame Elemente wie Vietnam und den Kampf gegen den Neokolonialismus, Che Guevara, die kubanische Revolution und alles was danach folgte. Und es gab die Fabriken – noch so ein gemeinsames Element – den Ort, an dem der Kampf um die Freiheit ihren Anfang nahm. Während der gesamten 68er-Bewegung, überall, ‚suchten‘ die Studenten die Fabrik. Die 68er-Bewegung war durchaus eine antiautoritäre Bewegung, aber sie war auch eine Bewegung des Protests gegen das System.“

Die Entdeckung des Glücks, die Entdeckung der Politik

Das Jahr 1968 hat auch tatsächlich eine Änderung der allgemeinen Sitten mit sich gebracht.

„Wenn das wahr ist, dann beurteilen wir das Erbe von ’68 unterschiedlich, denn in puncto Änderung der allgemeinen Sitten war die Bewegung tatsächlich erfolgreich. Das würde allerdings bedeuten, das Ganze auf eine Protestbewegung gegen die Professoren und Eltern zu reduzieren. Dabei war ’68 nicht nur das, es war viel mehr. Diesen einen Kampf hat man gewonnen, die Sitten haben sich geändert, die sexuelle Befreiung wurde erkämpft. Aber diese Freiheit ist ‚verschrumpelt‘, wurde auf die Freiheit des Einzelnen reduziert. Eine der jüngsten Ausgaben von Le Monde ist eine einzige polemische Tirade gegen jene 68er, die später Manager, Direktoren, mächtig, reich usw. geworden sind und in Folge heute nur selektive, sehr positive Erinnerungen an ’68 haben. Besonders bewegt hat mich in diesem Zusammenhang Paolo Mieli, der rückblickend meinte, dass ‚1968 das Glück entdeckt wurde‘. In gewisser Hinsicht teile ich seine Meinung, denn ’68 erfolgte ein Schritt heraus aus der Einsamkeit. Wir trafen uns in großen Gruppen, um gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen, wir begannen, kollektiv zu handeln, uns nicht als isolierte Individuen wahrzunehmen, rauszugehen, Dinge zu entdecken, wir wollten die Welt verändern. Das war nicht nur die Entdeckung des Glücks, sondern – ganz banal – die Entdeckung der Politik. Aber einer Politik, die nicht allein auf Machtergreifung reduziert war, sondern die etwas ganz anderes war. Dieses Glück ist zu Ende. Wir leben heute in traurigen Zeiten.“

Gibt es einen Punkt, in dem wir tatsächlich Fortschritte gemacht haben?

„Auch wenn die Bedeutung des Jahres 1968 heruntergespielt wurde, geht doch alles immer weiter, im Guten wie im Schlechten. Was zählt, ist die Erfahrung, die zumindest Anstoß zum Nachdenken gibt. Der einzige Ort, der sich in dieser Zeit wirklich nachhaltig verändert hat, ist meines Erachtens Deutschland. Das Jahr 1968 stand in Deutschland unter einem besonderen Zeichen, dem Zeichen der Entdeckung der Vergangenheit und der Revolte gegen diese Vergangenheit. Die hatte in Deutschland bis dahin noch nicht stattgefunden und begann im Zuge der Studentenrevolte. Deren tiefgreifende kritische Überlegungen haben Deutschland bis heute geprägt. Ich bin der Ansicht, dass Deutschland das demokratischste Land in Europa ist, und das verdanken wir dem Jahr ’68.“