NEUE MUSIK 2014
Musik und Wirklichkeit

Darmstadt oder Donaueschingen, Witten oder Weingarten, Bochum oder Berlin - die Orte der Neuen Musik 2014 sind ebenso verschieden wie die Projekte: Musiktheater oder Ensemblewerk, Konzeptstück oder Multimedia-Performance... Die Institutionen, die dafür und dahinter stehen, ermöglichten in diesem Jahr nicht nur wichtige Aufführungen, sondern auch intensive Diskussionen.
 

Debatte

Ist Musik Musik - oder doch zuallererst Reflexion der erlebten Wirklichkeit?
Die Szene der zeitgenössischen Musik spielt nicht nur, komponiert, installiert, inszeniert, interpretiert und vermittelt, 2014 diskutierte sie auch mit neuer Vehemenz. Ausgehend von der Frage nach einem "neuen Konzeptualismus" in der Musik, der die Neue Zeitschrift für Musik Anfang 2014 ein eigenes Heft widmete, durchzogen Debatten um solch grundsätzliche Standortbestimmungen verschiedene Symposien und Festivals. "Konzeptmusik" kann dabei als (unter Umständen nur vorgeführter oder gedachter, aber unsere Wahrnehmungsmechanismen und Welterfahrungen erhellender) Versuchsaufbau erscheinen - die Gegenposition verortet Musik und ihre Ausdrucksqualitäten in dem, was letztlich klingt.
Die Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt konfrontierte unter dem Aspekt Weltbezüge in Neuer Musik Arbeiten von Martin Schüttler, Hannes Seidl oder Britta Muntendorf mit Musik von Helmut Lachenmann.

Szene aus dem multimedialen Konzert DEAD SERIOUS in Darmstadt Premiere des multimedialen Konzerts Dead Serious bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt | © IMD, Foto: Daniel Pufe
Das multimediale Projekt Mediterranean Voices, das die Neuen Vocalsolisten beim Stuttgarter Festival Eclat vorstellten, nahm den gemeinsamen und politisch brisanten Lebensraum am Mittelmeer zum Auswahlkriterium der Komponisten und Dokumentationen.

Auch die Darmstädter Ferienkurse, traditionelles (Nachwuchs-)Diskussionsforum der Szene, waren geprägt von Fragen nach Welt- bzw. Selbstbezüglichkeit - greifbar etwa in der medienreflexiven siebenstündigen Performance Audioguide von Johannes Kreidler.

Ereignisse, Abschiede und Kontinuitäten

Zum für viele eindrücklichsten Moment bei den Darmstädter Ferienkursen aber wurde die Aufführung von Exit F von Michael Maierhof: ein Konzert für Heißluftballons und Ensemble, gespielt vom Ensemble Nadar und eingebunden in ein mehrteilig-multimediales open-air-Projekt, das nach Einbruch der Dunkelheit begann.

EXIT F für 4 Heißluftballons beim Event <I>Dead Serious</I> in Darmstadt Michael Maierhofs Exit F bei der Premiere des Open-Air-Events Dead Serious in Darmstadt | © IMD, Foto: Daniel Pufe Und so sind es auch 2014 besondere Ereignisse, die in Erinnerung bleiben, die aber zumeist und nicht zufällig eingebunden sind in die lebendige und ungebrochen florierende Festivalkultur Deutschlands. Für deren institutionelle Kontinuität sorgen nicht zuletzt die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten neben Ländern und Kommunen. Inhaltlich zeichnen, nicht selten über lange Zeiträume, Programmgestalter verantwortlich, einige von ihnen gestalteten "ihr" Festival 2014 zum letzten Mal.

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, ließ es sich nicht nehmen, in seinem Abschiedsjahr Louis Andriessens niederländisches Nationalstück De Materie in der Duisburger Kraftzentrale selbst zu inszenieren; die Aufführung mit dem ChorWerk Ruhr und dem Ensemble Modern Orchestra unter Peter Rundel war ähnlich aufsehenerregend wie Morton Feldmans Nicht-Oper Neither in der Bochumer Jahrhunderthalle, inszeniert von Romeo Castellucci und musikalisch geleitet von Emilio Pomárico.

In seiner letzten Ausgabe der MaerzMusik, die in Berlin unter anderem musiktheatralische Produktionen von Enno Poppe und Mela Meierhans zeigte, lud Matthias Osterwold auch das experimentelle Splitter-Orchester ein - und das Berliner Ensemblekollektiv, das damit seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte: Es handelt sich um einen Zusammenschluss, mit dem vier arrivierte Berliner Ensembles (Ensemble Adapter, Sonar Quartett, Ensemble Apparat und ensemble mosaik) angesichts nicht eben leichter werdender Rahmenbedingungen ihre Präsenz und Beweglichkeit demonstrieren.

Überhaupt: die große und sich immer wieder erweiternde Szene der freien Ensembles! Sie kann sicherlich nicht die 2014 (zu spät?) unter den Schutz des UNESCO Weltkulturerbes gestellte Orchesterkultur ersetzen. Aber gerade in Deutschland sind die Ensembles mit ihren je eigenen Profilen und schier unerschöpflichen innovativen Kräften für die Komponisten und Veranstalter Neuer Musik zu unverzichtbaren Partnern geworden. Auch fürs Musiktheater: Peter Ruzickas letzte Münchner Biennale für Neues Musiktheater stand unter dem Motto Außer Kontrolle - in Erinnerung bleibt die Uraufführung von Hèctor Parras Das geopferte Leben mit dem ensemble recherche und dem Freiburger Barockorchester.

Unvorhergesehen wurden nach 23 Jahren seines dortigen Wirkens auch die Donaueschinger Musiktage 2014 zu einem letzten Festival ihres künstlerischen Leiters; Armin Köhler verstarb im November. Erstmals präsentierten die Musiktage im Oktober Komponisten in doppelten oder dreifachen Tätigkeitsfeldern, als Maler oder Dichter oder (Video-)Skulpteure. Jennifer Walshe, Ondrej Adamek und Brian Ferneyhough überraschten in ihrer Vielseitigkeit. Zum Aufmerksamkeitsmagneten (und bepreist durch das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg) wurde aber Simon Steen-Andersens Piano Concerto mit sturzverwandeltem Video-Doppelklavier.

Pianist Simon Steen-Andersen Simon Steen-Andersens Piano Concerto in Donaueschingen | Copyright: SWR Baden-Baden, Foto: Hans Kumpf Für Kontinuität im Festivalbetrieb steht Rita Jans als künstlerische Leiterin bei den (von ihr 1986 gegründeten!) Tagen für Neue Musik Weingarten. 2014 waren sie der Komponistin Carola Bauckholt gewidmet. Und die (seit über zwei Jahrzehnten von Harry Vogt programmierten) Wittener Tage für Neue Kammermusik boten neben einem besonderen Schlagzeug-Doppelkonzert von Rebecca Saunders in diesem Jahr unter anderem auch eine Plattform für ein seltenes Jubiläum: Das Arditti Quartet feierte sein vierzigjähriges Bestehen als uneinholbar produktivstes Streichquartett in der Neuen Musik.

Das Festival Ultraschall Berlin vollzog einen Teil-Wechsel in der künstlerischen Leitung (seit 2014: Andreas Göbel statt Margarete Zander, zusammen mit Rainer Pöllmann), dazu eine kleine Reform und Namensvariation; in diesem Jahr widmete man sich unter anderem der schwedischen Komponistin Malin Bång und der norwegischen Musikszene.

Junge Traditionen und alte Meister

Der Blick nach Skandinavien war 2014 nicht zum ersten Mal auch Bestandteil der Tage für Neue Musik Kiel. Hervorgegangen aus dem bundesweiten Netzwerk Neue Musik ist der Verein Chiffren dabei, eine eigene Tradition in der "musikalischen Provinz" zu etablieren. Aber gibt es diese "Provinz" überhaupt?
Stadt- und Staatstheater überall in der Republik beweisen seit Jahren das Gegenteil; auch neue und neueste Werke stehen auf den Spielplänen. 2014 machte besonders die Uraufführung von Mark Andrés christlicher Roadmovie-Oper wunderzaichen an der Stuttgarter Staatsoper von sich reden.

Bonn feierte die Klangkunst. Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums veranstaltete bonn hören ein zweiwöchiges Festival - und wählte mit Stefan Rummel und Max Eastley gleich zwei neue Stadtklangkünstler für die Beethoven-Stadt.

Genre- und Epochenwechsel zwischen Performance, Oper, Konzert, Film und Installation kennzeichnen die KunstFestSpiele Herrenhausen, die ebenfalls 2010 gegründet wurden - 2014 gab es unter anderem den vom belgischen Muziekheater Transparant konzipierten Themenabend Songs of War. Auch das Forum Neue Musik Köln thematisierte, mit Konzerten und einem Symposium, das Kriegs-Gedenkjahr: 1914-2014 lautete die Überschrift.
 
Doch 2014 war auch ein Jahr der Rückbesinnung auf die "Altmeister" der Neuen Musik. Der 1988 verstorbene Giacinto Scelsi erlebte ein posthumes Comeback in mehreren seiner Musik gewidmeten Festivals und Schwerpunkten. Das von der Pianistin Marianne Schroeder ins Leben gerufene Giacinto Scelsi Festival in Basel, die Wittener Tage für Neue Kammermusik und die Darmstädter Ferienkurse diskutierten und spielten Scelsi; verschiedene Musiker und Komponisten ließen sich von seiner Musik zu Fortschreibungen inspirieren.

György Ligeti (1923-2006) war der kompositorische rote Faden für das Kölner Festival Acht Brücken. Harrison Birtwistle feierte seinen 80. Geburtstag unter anderem bei Musik21 in Hannover, Klaus Huber seinen 90. an den Musikhochschulen in Basel und Freiburg. Auch Luigi Nono (1924-1990) wäre 90 Jahre alt geworden; ein mehrtägiger Schwerpunkt des Holland Festivals mit deutschen und holländischen Mitwirkenden unter der künstlerischen Leitung von Ingo Metzmacher und André Richard erinnerte daran und brachte vor allem die großen, späten Werke als Referenzproduktionen in den architektonisch eigens eingerichteten Amsterdamer Gashouder.
 
Musik oder Wirklichkeit? Eine Frage sicherlich, die sich auch am Ende des Jahres 2014 nicht beantworten lässt, vielmehr hat sie weitere grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Was verstehen wir heute als Musik? Oder auch: Was ist Wirklichkeit? Dass die Berliner Akademie der Künste mit Manos Tsangaris als Projektleiter des musikalischen Bereichs einen interdisziplinären Schwerpunkt dem Schwindel der Wirklichkeit" widmete und über mehrere Monate ein künstlerisches "Büro zur Reparatur von Wirklichkeit" einrichtete, scheint im Rückblick ein beinahe notwendiger Kommentar.