Kulturpolitik für die Ukraine
"Unabdingbarer Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung"

Im gemeinsamen Projekt Zeitgeist des Goethe-Instituts Ukraine und des Magazins Platforma haben wir zwei ukrainische Intellektuelle gefragt, welche Kulturpolitik in der Ukraine für die Entwicklung in der Gesellschaft und als eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen in der Welt nötig ist.
(volle Texte sind auf der Projektseite zu finden)

Kulturstrategie von "Idealisten"

Kateryna Botanowa / Foto: Dmitrij Larin Foto: Dmitrij Larin Kateryna Botanowa ist Chefredakteurin der Internet-Zeitung „UP: Kultur“, Begründerin des Online-Kulturmagazins Korydor, Kuratorin des internationalen Festivals Culturescapes und Mitglied der Arbeitsgruppe für Entwicklung der Strategie „Kultur-2025“.

„Idealisten“ ist wahrscheinlich eine zu nette Bezeichnung für diejenigen, die immer noch daran glauben, dass Kultur wichtig für Veränderung und Entwicklung ist, dass ohne eine besondere Beachtung der Kultur und der Bildung keiner in zehn Jahren da sein wird, der die schönen liberalen Reformen implementieren könnte, die das gegenwärtige (künftige) Parlament und das gegenwärtige (künftige) Ministerkabinett unter dem Druck der EU verabschieden (werden). Die "Idealisten" glauben daran - um es mit Jaroslaw Hryzaks pointierten Worten zu sagen - dass man sich Kultur und Werte wie Butter aufs Brot streichen kann. Und dass Erfolg in der heutigen Welt immer weniger an der Größe dieser Brotscheibe gemessen wird, also an makroökonomischen Daten, sondern an der Nachhaltigkeit der Entwicklung, an den Möglichkeiten jedes einzelnen Menschen zur Selbstentfaltung, am Glücksindex und an der Lebensqualität de Städte.

Dabei sind die „Idealisten“ nicht diejenigen, die nur träumen. Sie schlagen auch eine Strategie vor, die mit ihren fünf Zielen nicht nur die Kultur, sondern auch die Gesellschaft verändern kann.

Bildungs-, Innovations- und Kommunikationspotential von Kultur aktivieren

Sowohl Schulkinder als auch Studenten müssen keine Gigabytes an Informationen auswendig lernen und auf Kosten ihrer Gesundheit Olympiaden gewinnen. Stattdessen sollte ihnen dabei geholfen werden, sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln, unkonventionell, kreativ und kritisch zu denken und Möglichkeiten zur Anwendung ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten in einer Welt der Beschleunigung und der Konkurrenz zu finden. Für Bildung spielen Geisteswissenschaften und Kunst sowie Kooperationen mit verschiedenen Kulturschauplätzen wie Theater und Museen eine große Rolle.

Das Innovationspotential von Kultur eröffnet auch der Kreativwirtschaft, die sich in Europa als Wirtschaftszweig am schnellsten entwickelt, Möglichkeiten für die Kombination von Kultur, Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft.

Gegenseitiges Verständnis und Versöhnung in der ukrainischen Gesellschaft stiften

Das gehört zu den Hauptprioritäten des ukrainischen Staates für die kommenden zehn Jahre. Teilung, Unverständnis, Misstrauen und Feindseligkeit halten nicht nur die Entwicklung des Landes auf, sie sind auch Nährboden für weitere Manipulationen von außen und bergen Konfliktpotential.

Hierfür kann man auf eine reiche und vielfältige europäische Erfahrung in Versöhnung und Verständigung zurückgreifen. Künstler können mit einer finanziellen Unterstützung durch unser Land reisen und die unsichtbaren Fäden der gemeinsamen Erfahrungen und Geschichten - alte, neue, kürzlich entstandene und noch nicht erzählte - miteinander verknüpfen.

Die Kulturlandschaft einer Stadt braucht Aufmerksamkeit und finanzielle Hilfe, damit sie nicht auf eine Musikschule oder ein Volkstanzensemble schrumpft. Im Rahmen der Aktion „Kulturhauptstadt Europas“ haben sich beispielsweise viele europäische Städte durch Kultur weiterentwickelt. Wichtig ist natürlich eine „gastfreundliche Infrastruktur“, die eine Stadt für alle interessant macht, zumal sie auch Arbeitsplätze schafft.

Kulturinstitutionen besucherorientiert neu gestalten

Man muss Zeit und Mühe dafür aufbringen, dass alle Kulturinstitutionen, von einem Museum oder Kunstzentrum in der Hauptstadt bis hin zur Bezirksbibliothek, den Hauptgrund ihres Bestehens nicht in minimalen, aber regelmäßigen Gehältern sehen, nicht im Aufbewahren von Dingen, die von wenigen gesehen und von noch wenigeren verstanden werden, nicht in den Besucherzahlen und dem Gewinn , sondern in ihren Besuchern, in jedem von uns. Der Fokus muss darauf liegen, dass jede Kulturinstitution lebendig und interessant sein und Menschen beim Verstehen unserer seltsamen und komplizierten Welt helfen soll.

Und das bedeutet: Grünes Licht für diejenigen, die schon wissen, was zu machen ist, Unterstützung und Ausbildung für alle anderen. Außerdem versteht man darunter auch Stellenausschreibungen für Leitungspositionen und Schaffensfreiheit, um verschiedene Kulturprodukte, und nicht nur das "nationale Kulturprodukt", zu erstellen.

Staatliche Ressourcen für alle freigeben

Budget, Mitspracherecht, Infrastruktur - das alles muss nicht nur staatlich finanzierten und kontrollierten Institutionen zugänglich sein. Die Nestor-Gruppe spricht in ihrem „Vertrag der Würde für eine nachhaltige Entwicklung der Ukraine“ vom Prinzip des offenen Zugangs: Ressourcen werden nicht nach der „Nähe zur Regierung“, sondern aufgrund einer transparenten Konkurrenz vergeben. Das soll dazu führen, dass man für eine interessante Aufführung oder Ausstellung, für eine wichtige Veranstaltung, die einem neue Impulse geben könnte, nicht unbedingt nach Kiew bzw. nicht in die Kiewer Stadtmitte fahren muss, weil man überall im Land ein Kulturzentrum in der Nähe hat.

Ausbildung für Künstler, Kulturmanager und Aktivisten aktualisieren

Spannende Kinderprogramme, ungewöhnliche Aufführungen, die durch Europa touren - alles, was hier beschrieben wurde, muss doch jemand umsetzen. Freiwillige und Autodidakten, die diesen Karren bis heute noch ganz alleine ziehen, reichen überhaupt nicht aus.

Eine Voraussetzung ist hier eine echte Offenheit der Ukraine gegenüber Europa und dem Wissen, der Praxis, den Problemen und den Fragen, die verschiedene europäische Institutionen angesammelt haben. Es geht darum, kein bestimmtes Modell zu übernehmen, sondern die Vielzahl an Wissensmodellen selbst aufzunehmen.

Diese Strategie erfordert also viel Arbeit, Änderungen in den Gesetzen, in der Einstellung zur Kultur und ihrer Bedeutung. Und das gilt vor allem für diejenigen, die im Kulturbereich arbeiten. Eine neue Wahrnehmung der Kultur ist hier entscheidend: von der „national-patriotischen Erziehung“ und dem „Vorzeigegesicht des Landes“ hin zu einem unabdingbaren Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung.

Rolle der Ukraine in der Welt

 

Jewhen Hlibowytskyj / Foto: Andrij Makukha (Amakuha) – eigene Arbeit, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33613985 Foto: Andrij Makukha (Amakuha) – eigene Arbeit, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33613985 Jewhen Hlibowytskyj ist Mitglied der Nestor-Gruppe, einer freien Gruppe von Intellektuellen und zivilgesellschaftlichen Aktivisten für die Entwicklung einer strategischen Vision der Ukraine

Eine Antwort auf die Frage, was die Ukraine den Ukrainern gibt, können wir schon ahnen. So ist die Ukraine ein ziemlich einzigartiger demokratischer Raum, der von unten nach oben wächst. Und für die Ukrainer ist das mehr oder weniger verständlich. Auch über die Rolle der Ukraine in der Welt wird im Land diskutiert, dabei wird es aber noch nicht nach außen artikuliert. Wir setzen die Energie der Leidenschaft frei - hier geschieht ein wunderbares Erwachen einer Nation. Aber dieser Prozess ist so ungewöhnlich für moderne Europäer, die an einen mäßigen, aber ständigen Fortschritt gewöhnt sind, dass wir sie damit verschrecken können.

Die Welt wird uns mehr vertrauen, wenn wir beweisen, dass unsere Leidenschaft konvertierbar ist: Erstens in die Regeln, die eine weitere Entwicklung ermöglichen – und das ist für uns am schwierigsten, weil wir keine Tradition von institutionellem Aufbau haben; zweitens in eine konstruktive Tagesordnung, die unseren Beitrag in die Sicherheit und die Entwicklung der Welt zeigen kann.

Wir können unsere Interpretation westlicher Werte weiter in den Osten tragen. Wir verstehen sehr gut, wie postsowjetische Gesellschaften funktionieren, sind wir doch aus derselben hervorgegangen, wie sie.  Und dabei geht es hier nicht unbedingt um Kulturnähe. Ich würde eher sagen, dass wir Erfahrungen im Zusammenleben teilen. Wir verstehen einander wie diejenigen, die lange Zeit auf einem gemeinsamen Gelände lebten. So können wir unseren westlichen Partnern anbieten, eine Art "Guide" bzw. ein Lotse im weiteren postsowjetischen Raum zu sein, damit diese Welt uns folgt und vom Pfad des Überlebens auf den Pfad der Modernisierung übergeht.

Demzufolge ist unser Erfolg wichtig, weil er die Hoffnung auf europäische Transformationen nach Russland und Belarus, Moldawien, Zentralasien, in den Kaukasus bringt, praktisch in die Anrainerregionen Europas. Als Akteur in der Region haben wir ein großes Potential und können auch eine regionale Agenda beeinflussen. Das kommt zustande, wenn wir beispielhaft und verantwortungsvoller werden.

Die Ukraine ist ein spannender Mix aus westlichen und östlichen, nördlichen und südlichen Einflüssen. Wir sind ein Treffpunkt für die katholische, die orthodoxe und die islamische Welt, in unserem Unterbewusstsein blickt der im Holocaust und sowjetischen Antisemitismus zerstörte Judaismus durch, weitere Verschiedenartigkeiten verbinden sich hier in einem Mosaik. Im ukrainischen Diskurs alleine haben wir es mit einer wesentlichen Vielfalt zu tun - wir überlebten Extremzustände von der "grenzenlosen" Freiheit eines anarchistischen Guljajpole bis zu einem genauso "unbeschränkten" Totalitarismus, von einer leidenschaftlichen Liebe bis hin zu einem passionierten Hass. Trotz unserer Ängste sind wir ziemlich offen.

Die Ukraine birgt viel Unvereinbares - und das setzt Energie für kreative Sphären frei. Die Kreativität erkenne ich in der Wirtschaft, in der Kultur und in der Gesellschaft, sie machte sich in der frühen Phase des Majdans bemerkbar. Und das kann die internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In einigen Jahren können wir die Kunst beherrschen, wie man die Welt auf unsere Mode, Küche und Kunst neugierig macht. Dabei besteht die Herausforderung bis heute noch darin, Formen zu finden, die sowohl im Westen als auch im Osten verständlich sind. Aber das Wichtigste haben wir - die Inhalte, von denen die Welt Gebrauch machen kann.