Babylon im Klassenzimmer
Schiwere Schipirache

Autorin Akyün: „Wir können den Jugendlichen eine Chance geben“
Autorin Akyün: „Wir können den Jugendlichen eine Chance geben“ | Foto: privat

Neukölln, Wedding, Wilhelmsburg: Es gibt Stadtviertel, deren Namen kennt man im ganzen Land. Wenn man sie hört, denkt man an Hartz IV und Schulen, in denen mehr Türkisch als Deutsch gesprochen wird. Wer hier aufwächst, hat ohnehin im Leben keine Chance mehr, denkt man. Unsinn, sagt Hatice Akyün.

Ey, isch bin Türkin, Hatice, Herz groß wie Fußball, aba nix wissen was Schipirache is. Aba mein Bruda Mustafa is richtisch fit im Kopp. Deutsche Schipirache, schiwere Schipirache, sacht er.

Vielleicht sind Sie jetzt verwirrt, vielleicht sogar schockiert, aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen, Ihnen ein paar Vorurteile zu bestätigen. Ein Satz, den ich von Deutschen sehr häufig höre ist: Sie sprechen aber gut Deutsch. Und meine Antwort darauf lautet immer: Sie aber auch!

Wissen Sie, ich komme aus dem Ruhrgebiet. Da ist man erstens sehr direkt, mit der Meinung wird nicht lange hinterm Berg oder besser hinter der Halde gehalten, und zweitens ist man da schon viele Schritte weiter. Im Bergbau ging es irgendwann gar nicht mehr ohne die Hilfe von sogenannten Gastarbeitern. Auch wenn der Begriff damals auf die Endlichkeit unseres Aufenthalts verweisen sollte, in keiner anderen Branche steht man so zueinander wie unter Tage. Nicht nur, weil alle Kumpel sind, sondern weil man sich auf den anderen verlassen können muss, und dann sitzt man mit Ali und Hans irgendwann auch am Stammtisch. So einfach ist das. Da fällt mir noch etwas zum Begriff Gastarbeiter ein: In der Türkei lässt man Gäste übrigens nicht arbeiten.

Aber entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht richtig vorgestellt: Ich bin Hatice Akyün, Türkin, aber auch Deutsche. Ausländerin, Muslima, Journalistin, Autorin und Miststück, je nachdem, wer mich gerade betrachtet. Ich bin quasi ein Paradebeispiel gelungener Integration. Und mein Name bedeutet nicht „die unter der Morgendämmerung aufgehende mit Tau benetzte Sonnenblume von den Hügeln Anatoliens“.

Vorurteile am Hermannplatz

Viele Leute denken, dass eine wie ich, Pendlerin zwischen den Kulturen, eine Menge zu erzählen hat. Sie haben Recht. Ich stehe jeden Morgen auf, trinke Kaffee und lese die Zeitung. Manchmal kommt es sogar vor, dass ich beim Bäcker Brötchen kaufe. Auf dem Weg dorthin trage ich nur selten Kopftuch, außer es schneit heftig, und meine zwei Brüder Mustafa und Mehmet lauern nicht hinter einer Hecke, weil unser Vater sie auf mich gehetzt hat. Aufgewachsen bin ich in Duisburg-Marxloh. Falls Ihnen das nichts sagt: Denken Sie einfach an Neukölln, Moabit oder den Wedding! Die, die es nicht kennen, trauen sich erst gar nicht dahin. Dort gehen die Türken jeden Tag mit dem Messer aufeinander los. Wer kein Türkisch spricht, kann am Hermannplatz in Berlin-Neukölln nicht einmal bei der Telekom einen Vertrag abschließen. Und wer versucht, mit Jugendlichen auf der Straße zu sprechen, bekommt gleich die Brieftasche abgenommen. Vorurteile machen das Leben wirklich leichter.

Wenn ich diese Jugendlichen am Hermannplatz sehe, muss ich an meinen geliebten kleinen Bruder Mustafa denken, der mit seinem 3er-BMW herumkurvt und mir Handys andreht, die ich nicht brauche, aber ich bekomme sie besonders günstig, weil ich seine „Schiwesta“ bin. Er ist ein echter Filou, mittlerweile Mitte zwanzig. Er ist ein Macho mit äußerst liebenswerten Seiten, und er könnte perfekt Deutsch sprechen, aber das will er nicht. Wenn ich ihn frage, wie es denn mit seiner Freundin läuft, antwortet er: „Ey hab isch mit die Schuluss gemacht.“ Dann korrigiere ich ihn: „Mustafa, das heißt, mit ihr habe ich Schluss gemacht.“ Und er sagt cool, mit einem schiefen Lächeln: „Is Määdschen, is doch die.“

Ich hab’ ihn mal gefragt, ob er sich als wandelndes Klischee nicht auch mal lächerlich vorkommt, seine Antwort lieferte er im feinstem Hochdeutsch, etwa so: „Liebe Schwester, mische ich mich in deine Angelegenheiten? Also, bitte!“ Mein Bruder hat mit Kanak Sprak einfach größeren Erfolg, auch bei den Frauen. Seine aktuelle Freundin lernte er in einem Café kennen, in dem sie allein am Tisch saß und eine Zeitschrift las. Mustafa sah sie, ging an ihren Tisch, beugte sich vor, setzte sein schönstes Lächeln auf und sagte: „Glaubs du an Liebe auf erste Blick, oder soll isch noch ma reinkomm?“

Eine heile Welt mitten in Deutschland

Mein anderer Bruder Mehmet ist angepasster und weniger draufgängerisch. Er ist gerade dreißig und er öffnete vor gut zehn Jahren sein erstes Computerfachgeschäft, in dem er türkischen Kunden die neue Technologie erklärte, und zwar in der Sprache, die sie auch verstanden – auf Türkisch. Mittlerweile besitzt er drei brummende Läden und ist der Prototyp eines erfolgreichen Türken. Gefragt nach seinen türkischen Eigenschaften, betont er seinen Ehrgeiz, seinen immerwährenden Fleiß und seine ausnahmslose Pünktlichkeit. Auf Eigenschaften wie Mut, Stolz und Verteidigung der Ehre, die für mich eigentlich türkisch sind, konnte ich mich bei ihm noch nie verlassen. Ganz im Gegenteil, als mein erster Freund mit mir Schluss gemacht hatte, ging ich zu meinem Bruder und befahl ihm: „Knöpf dir mal den Blödmann vor, und regle das für mich! Er hat deine Schwester gedemütigt. Du bist doch Türke!“ Er sah mich vorsichtig an und sagte: „Willst du nicht lieber noch einmal mit ihm reden?“ Es ist wirklich nicht leicht, es den Deutschen recht zu machen – und den Türken auch nicht.

Doch es ist sicher falsch, die Gräben zu vertiefen oder in hübsch voneinander getrennten Welten zu leben. Wir leben doch in einer Stadt. Oder glauben Sie, wir wollten das so? Dass Neukölln fast rein türkisch ist und weder in der Schule noch auf der Straße Deutsch gelernt werden kann? In den Siebzigerjahren in Marxloh, war das noch anders. In unserer Straße wohnten Zechenarbeiter, wie mein Vater. Es waren Türken, Polen und Italiener, aber vor allem deutsche Kumpel, mit deren Kindern wir auf der Straße spielten, die bei uns ein und ausgingen und durch die ich überhaupt Deutsch gelernt habe. Es war unsere heile Welt, mitten in Deutschland. Man war neugierig aufeinander, und wenn man sich als guter Freund bewährt hatte, war es egal, woher die Eltern kamen. Duisburg-Marxloh war ein Arbeiterviertel, genauso wie Berlin-Neukölln; heute ist es nur noch ein Ausländerviertel.

Ich denke, dagegen sollte man angehen. Eine kulturell vielfältige Stadt, als die sich Berlin ja nur zu gern preist, bedeutet für mich eine durchmischte Stadt, Deutsche wohnen neben Türken, weil beide sich in ein und demselben Stadtteil wohl fühlen. Alle Integrationsarbeit könnte um so vieles erleichtert werden, wenn die Kinder wieder miteinander spielen würden, wenn Ängste abgebaut werden würden. Und ich nehme die Türken dabei nicht aus. Es sind nicht nur die Deutschen, die die Türken in ein Viertel drängen. Viele Türken grenzen sich selber ab. In den Familien wird kein Deutsch gesprochen, einige türkische Frauen verstehen bis heute noch kein Deutsch, obwohl sie seit 30 Jahren hier leben.

„Hat doch keinen Sinn“

Albert Einstein soll gesagt haben: „Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit dem Radius Null – und das nennen sie ihren Standpunkt.“ Vermutlich hat er Recht, aber das heißt nicht, dass man den Radius nicht erweitern kann, Stück für Stück, langsam durch Wissen ausdehnen.

Die Jungs und Mädels aus Neukölln, Moabit oder anderen Stadtvierteln deutscher Städte haben zu oft an Türen gepocht und nichts Gutes zu hören bekommen. Häufig wurde ihnen nicht einmal geöffnet. Und kann man es ihnen dann verübeln, wenn sie sich verschanzen und sagen: „Hat doch keinen Sinn.“ Und nun kommen sie alle, die Politiker, die Wirtschaft und erwarten, dass nur weil sie sich öffnen möchten und auch Türken als Bremse des demografischen Wandels akzeptieren, dass sich das wie ein Lauffeuer herumspricht und die Jugendlichen morgen vor ihrer Tür stehen. Vorurteile gibt es übrigens in beide Richtungen. Mit Sprache verbinden die meisten ein Stück Identität.

Was nützt ein Schulabschluss, wenn den Jugendlichen ab der vierten Klasse gesagt wird, dass man eh keine Chance hat auf dem Arbeitsmarkt, dass man aus Neukölln niemals rauskommt. Das ist eine Lüge. Und so wie ich versuche, als wandelndes Fallbeispiel den Jugendlichen Mut zu machen, so können das alle tun. Wir alle können ihnen eine Zukunft geben, und sie werden uns nicht enttäuschen. Denn wenn ein junger Mensch gefordert wird, setzt er alles daran, seine Familie und seinen Arbeitgeber nicht zu enttäuschen. Dann ist es egal, ob er ein Türke, ein Deutscher oder ein Deutschtürke ist. Das Schlimmste ist die Hoffnungslosigkeit. Und wenn irgendjemand anhand irgendwelcher Zeugnisse an einem türkischen Jungen oder einem türkischen Mädchen zweifelt und nicht weiß, ob er oder sie den Anforderungen wirklich genügen kann, darf man auch einfach an mich denken, mein Fall funktioniert als Beispiel – wie man es trotz Jugend in Duisburg-Marxloh, Hauptschulabschluss und Migrationshintergrund schaffen kann, Deutsch zu lernen, die deutsche Verfassung zu lieben, sich in Deutschland beheimatet zu fühlen und deutsche Verleger und Herausgeber mit deutschsprachigen Artikeln und Büchern zufrieden zu stellen.
 

Hatice Akyün wurde 1969 in Akpinar in Anatolien geboren. 1972 zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland, wo sie seither lebt. Sie arbeitet als Gesellschaftsreporterin, Kolumnistin und Buchautorin. Zuletzt erschien von ihr 2013 Ich küss dich, Kismet – Eine Deutsche am Bosporus. Am 26. März diskutiert Hatice Akyün im Rahmen der Initiative Deutsch 3.0 mit der Herausgeberin Rosemarie Tracy, dem Sprachwissenschaftler Karl-Heinz Göttert und dem Berliner Schulleiter Michael Wüstenberg in Berlin zum Thema „Das mehrsprachige Klassenzimmer – wie viel Deutsch braucht ein Berliner Schulkind“.