LOOKING at / with / for / after ONE ANOTHER
Resonanz Paul Gilroy

 © Jeannette Ehlers

Für Jackie Kay und Gemeinderat Graham Campbell

Jeanette Ehlers’ Werk wird heute im Rahmen einer kulturellen Partnerschaft mit Schottland präsentiert. Von Englands „keltischer Randzone” aus, einem Ort, der auf seine eigene bittere und blutige Kolonialgeschichte zurückblickt, untersucht sie mithilfe ihrer transnationalen Kreativität die europäische Rassen- und Kulturpolitik. Ich möchte versuchen, mit lokalen und saisonalen Zutaten zu kochen – niedrige Lebensmittelmeilen. Das bedeutet, mit Schottland anzufangen und etwas darüber zu sagen, inwiefern ein Bezug zu Schottland dabei eine Rolle spielen könnte, welche Arten von Gesprächen wir heute über Ehlers‘ großartige Werke führen können.

Es ist notwendig, aber zu einfach, nur über die Geschichte des schottischen Sklavenhandels oder die Beteiligung von Schott*innen als Unternehmer*innen und Militärarbeiter an der ausgedehnten Verteidigung des britischen Weltreichs zu sprechen. Dieser koloniale Reichtum manifestiert sich in der materiellen Struktur schottischer Städte. Die Beute füllt schottische Museen und Universitäten. Es gibt weitere Komplexitätsschichten dieser Geschichte, die gewürdigt werden können, ohne der Thematik, wie Schottland unter den Engländer*innen gelitten hat, etwas wegzunehmen. All dies muss immer wieder erwähnt werden.

Aber heute möchte ich an einer anderen Stelle beginnen: mit der Person des schottischen Nationaldichters Robert Burns. Dass er mehrfach die Möglichkeit ablehnte, nach Jamaica zu reisen, um dort als Plantagenaufseher/Buchhalter zu arbeiten, ist weithin bekannt. Aber das ist nicht alles, was über ihn zu sagen ist. Burns fand und artikulierte einen „ökologischen“ Humanismus. Seine ausgeprägten Moralvorstellungen und philosophischen Ansichten hatten andere Auswirkungen auf die schwarzatlantische Welt. Seine Lyrik und seine Weltanschauung hatten großen Einfluss auf die flüchtigen afroamerikanischen Sklav*innen und Abolitionist*innen, die hierher kamen und Vorträge hielten, bestärkt in ihrer eigenen Überzeugung, dass ein Mann ein Mann ist trotz alledem.

Viele weitere afroamerikanische Antisklaverei-Aktivist*innen kamen mit der Absicht nach Schottland, ehrfurchtsvolle Pilgerfahrten zu Burns‘ Grab zu unternehmen.

Frederick Douglass‘ „innige Liebe zum schottischen Charakter“ und „hohe Wertschätzung der schottischen Genialität“ sind wohlbekannt. Er machte aus seiner grundlegenden und anhaltenden Verbindung zu Schottland und den Schott*innen keinen Hehl. Diese Neigung gewann einen politischen Aspekt, der weit über die unmittelbaren Fragen hinausging, die sich durch die Erfordernisse des abolitionistischen Aktivismus stellten. Sie warf eine Reihe wichtiger Fragen auf, wenn man die tiefen, lähmenden Bruchstellen bedenkt, die in der leidgeprüften Gemeinschaft der Antisklaverei-Aktivist*innen des Landes unübersehbar sind, die entschlossen waren, die enge Verbindung zwischen der schottischen Nationalkirche und den Sklavenhalter*innen in den US-Südstaaten zu zerschlagen.

Aus den bahnbrechenden Arbeiten des Historikers George Shepperson wissen wir, dass Frederick Douglass‘ Interesse an Schottland seinen Antisklaverei-Vorträgen vorausging, die im Frühjahr 1846 begannen. Davor hatte der große Antisklaverei-Redner romantische Darstellungen von Schottland und seinen Völkern kennen gelernt. Er war auf diese Vorstellungen und Bilder gestoßen, als er noch versklavt war, lange bevor er in einem Buchladen in Massachusetts seine hoch geschätzte persönliche Ausgabe von Burns‘ gesammelten Werken erwarb.

Viele weitere afroamerikanische Antisklaverei-Aktivist*innen kamen mit der Absicht nach Schottland, ehrfurchtsvolle Pilgerfahrten zu Burns‘ Grab zu unternehmen. Sie sprachen mit seinen noch lebenden Verwandten und bekundeten ihre Leidenschaft für seine Lyrik. Wir müssen wissen, warum sie das taten, und die Antworten, die wir aufspüren können, haben womöglich einen Bezug zur Bedeutung und Wirkung von Ehlers‘ außergewöhnlichen Arbeiten.

„Ich bin hier, weil du da warst“ entfaltet sich zu Ich bin, weil ich hierhergehöre.

Das berühmte und komplexe Gedicht „An eine Laus“ des „himmelsgelehrten Pflügers“, wie er in Schottland genannt wird, muss der begierigen Umklammerung der Posthumanist*innen entrissen werden. Die ersten Zeilen des letzten Verses deuten auf die Relevanz für unser Thema hin:
Ach, gäb‘ uns eine höh‘re Macht des Lebens
uns selbst zu sehen wie uns andre sehen!

Ehlers‘ Werk feiert den Widerstand gegen die vom Rassismus verordnete extreme Gleichheit oder Austauschbarkeit und die individualisierte, rassifizierende Erfahrung, zu sehen, wie man selbst gesehen wird. Diese Mechanismen verweigern dem schwarzen Menschen jede legitime individuelle Identität oder authentische Subjektivität. Aber Ehlers‘ Werk ist von den üblichen händeringenden liberalen Klagen über verhinderten Zugang zu selbstbestimmter Individualität weit entfernt. Hier sieht die Schwarze, wie sie selbst gesehen wird, und begreift, wie es auch Fanon tat, die entlarvende, entfremdende Macht dieser Offenbarung. Ehlers spielt mit der Wucht dieser verstörenden Wahrnehmung: die Verwirrung und Desorientierung, die entsteht, wenn man sich der Tatsache stellt, dass man als Schwarze verkannt wird . . . „den Sorte“, derselbe Ausruf, der Nella auf ihren Wanderungen durch Kopenhagen entgegenschallte.

Die wunderbar beleuchteten Gesichter in The Gaze bekräftigen relationales Dasein und Intersubjektivität. „Ich bin hier, weil du da warst“ entfaltet sich zu Ich bin, weil ich hierhergehöre. Beide Werke machen Variation alltäglich und normal. Diese Rangordnung des Unterschieds hat nichts Exotisches an sich. Sie ist alltägliche Realität. Black is a beautiful word. I & I ist zyklisch und fordert uns auf, die Beziehung von Singularität zu Pluralität im Kontext eines rassisch geordneten und hierarchischen Raums neu zu überdenken. „Ich bin ein mögliches Du“. Der Blick transzendiert die Distanz. Wir haben gemeinsame Vorfahren. Unsere organische Verbindung unterliegt den Unwägbarkeiten von Wetter und Schicksal. Der Trauer darüber, so aus Land und Heimat herausgerissen zu werden, dass wir nie wieder zuhause sein können. Vor langer Zeit lieferte uns der Dichter Amiri Baraka in seinem Tropus des sich verändernden Gleichen ein produktives Bild, mit dem sich die Figuration der Unterschiedlichkeit wiedergeben lässt. Es kam mir bei der Betrachtung von Ehlers‘ neueren Werken in den Sinn, in dem eine unendliche, fließende Verbindung zwischen einzelnen, weiß gekleideten weiblichen Körpern Fragen nicht nur von Multiplizität, sondern von Solidarität aufwirft.

Paul Gilroy

Professor Paul Gilroy © Foto by Lola Paprocka Professor Paul Gilroy Foto by Lola Paprocka
Paul Gilroy, Gründer und Direktor des Sarah Parker Remond Centre for the Study of Racism & Racialisation, wird als einer der führenden Theoretiker von Rasse und Rassismus beschrieben, der heute arbeitet und lehrt. Er ist Autor mehrerer einflussreicher Bücher wie There Ain’t No Black in the Union Jack (1987), The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness (1993), Against Race (2000), und Postcolonial Melancholia (2005). Paul Gilroy ist eine einzigartige Stimme, die die Zentralität und Hartnäckigkeit des rassistischen Denkens und der Repräsentationspraktiken in der modernen Welt anspricht und hat das Denkansätze über Disziplinen hinweg verändert. Er hat zu Denkansätzen über die Afro-Moderne, ästhetische Praktiken, diasporische Poetik und Praktiken, Klang- und Bildwelten beigetragen und diese geprägt. Gilroy wurde 2019 mit dem Holberg-Preis ausgezeichnet. Mit Ansätzen aus der Philosophie, Soziologie, Musikwissenschaft, Literatur, Geschichte und kritischer Theorie hat er der humanistischen Tradition neues Leben eingehaucht und sie um wissenschaftliche und politische Diskurse über Rasse und antirassistische Polemik erweitert.

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