Fan-Weihnachtssingen
„Alle Jahre wieder“ im Stadion

Union Weihnachtssingen 2010
Union Weihnachtssingen 2010 | Foto (Ausschnitt): © union-foto.de

Seit 2003 versammeln sich Fans der „Eisernen“, wie sich der Fußballklub Union Berlin nennt, am Vortag von Heiligabend zum Adventssingen im Stadion. Mittlerweile kommen fast 30.000 Menschen zusammen – doch nicht mehr alle sind von der Veranstaltung begeistert.

Weihnachtslieder gehören in Deutschland zur jahrhundertealten Tradition rund um das Fest. Anders als früher begnügen sich viele Menschen allerdings damit, sie von Tonträgern zu hören. Kling, Glöckchen, Alle Jahre wieder und O Tannenbaum erklingen oft wenig besinnlich in Kaufhäusern und auf überfüllten Weihnachtsmärkten. Und selbst zu Hause kommen die Lieder am Heiligabend in der Regel vom CD-Player. 

Weihnachtschor im Fußballstadion

Umso erstaunlicher ist, was sich seit Jahren am Vortag von Heiligabend in einem Waldgebiet am Stadtrand Berlins abspielt: Im Stadion „An der Alten Försterei“, der Heimstätte des Berliner Zweitligisten 1. FC Union Berlin, versammeln sich seit 2003 Fußballfans zum öffentlichen Weihnachtssingen. Mittlerweile bilden knapp 30.000 Menschen den größten Weihnachtschor in Deutschland – und möglicherweise darüber hinaus.


Trotz des ungewöhnlichen Auftrittsorts zwischen Tannen und Kiefern ist die Atmosphäre familiär. Sicherlich auch, weil den 1. FC Union Berlin, einer der bekanntesten Profiklubs der Hauptstadt, eine besondere Nähe zu seinen Fans auszeichnet – Fans und Verein werden gemeinsam auch als „Union-Familie“ bezeichnet. Vor einigen Jahren haben Tausende Anhänger sogar beim Stadionumbau der „Eisernen“, wie sich der Fußballverein nennt, mit angepackt und Klein-Aktien des Stadions erworben, um über dessen Nutzung mitbestimmen zu können.

wÄRMEN AN wEIHNACHTSLIEDERN

Auch das Weihnachtssingen ist sicherlich Teil des Bemühens, im Kommerz-Zeitalter des Profifußballs Fankultur zu bewahren. Denn die Veranstaltung wurde nicht als Marketing-Event des Klubs ins Leben gerufen, sondern von den Union-Anhängern selbst.

Im Advent 2003, als der Klub ans Tabellenende abrutschte und die Stimmung der Union-Familie am Tiefpunkt angelangt war, hatte der langjährige Fan Torsten Eisenbeiser eine Idee: sich in Zeiten der Not das Herz an Weihnachtsliedern zu wärmen. „Ich fand, dass wir das Weihnachtsfest auf diese Art in unserer Union-Familie besinnlich einläuten konnten, um dann zu unseren Familien nach Hause zu gehen.“

Der Erfinder des Weihnachtssingens Torsten Eisenbeiser Der Erfinder des Weihnachtssingens Torsten Eisenbeiser | Foto (Ausschnitt): © union-foto.de Viele treue Anhänger des 1966 gegründeten Ostberliner Klubs gehörten, bedingt durch die DDR-Prägung, keiner Religionsgemeinschaft an – und waren deswegen nur bei wenigen Weihnachtsliedern textsicher. Deshalb kopierte Torsten Eisenbeiser die Texte einiger Lieder auf Zettel. 89 Mitglieder seines Fanklubs „Alt-Unioner“ schlichen sich damit heimlich ins damals noch marode Stadion, um auf den Rängen gemeinsam zu singen.

Vom Minichor zum Massenchor

Nach und nach entwickelte sich das ehrenamtlich organisierte Weihnachtssingen zum Ritual, bei dem Tausende – mittlerweile sogar Zehntausende – mit Glühwein, Kerze und Liederbuch in den Händen zum Singen zusammenkommen. Ein lokaler Schülerchor stimmt die Lieder an, ein Pfarrer liest die Weihnachtsgeschichte. Und zwischen den festlichen Liedern schmettern die in den Klubfarben Rot und Weiß gekleideten Fans der „Eisernen“ auch mal einen Choral auf ihren Verein.

Das erste Unions-Weihnachtssingen 2003 Das erste Unions-Weihnachtssingen 2003 | Foto (Ausschnitt): © union-foto.de Längst ist die Veranstaltung über die Grenzen Berlins und des Vereins hinausgewachsen. Auch „Exil-Unioner“, die mittlerweile in anderen Städten leben, kommen zum Weihnachtssingen in die „Alte Försterei“ – selbst aus Skandinavien, der Schweiz, aus Belgien, Spanien, Tschechien und sogar aus Argentinien. Auch Flüchtlinge aus Syrien und Iran waren auf Einladung des Fanklubs da.

Das Großevent begeistert nicht alle

2013 war das Stadion erstmals komplett gefüllt, so dass sich die Organisatoren entschlossen, den Zustrom über den Verkauf von Tickets zu steuern. Seither ist die Veranstaltung rasch ausverkauft, die Einnahmen kommen dem Vereinsnachwuchs zugute.

Doch manche Union-Fans fühlen sich bei der Großveranstaltung nicht mehr zu Hause. „Früher fand ich das Weihnachtssingen toll, so familiär und besinnlich“, erinnert sich etwa Simon Kraushaar. „Vor zwei Jahren war ich jedoch das letzte Mal da, weil plötzlich Imbissbuden auf dem Rasen standen und alles wie eine Kommerz-Show wirkte.“ Torsten Eisenbeiser akzeptiert diese Meinung, sagt aber auch: „Es war keine bewusste Entscheidung, daraus ein Event zu machen. Dafür haben die Leute selbst gesorgt. Damit muss man leben.“ Er sieht die Veranstaltung immer noch als Weihnachtssingen der Union-Familie – nur eben mit viel mehr Gästen als früher.

Seit 2013 ist das Stadion komplett gefüllt Seit 2013 ist das Stadion komplett gefüllt | Foto (Ausschnitt): © union-foto.de

Die Idee findet Nachahmer

Zugleich strahlt die Idee ins Land. Von Fans anderer deutscher Fußballvereine wurde das weihnachtliche Singen in teils abgewandelter Form übernommen: bei Alemania Aachen etwa, bei 1860 München und bei Dynamo Dresden, in dessen Stadion 2015 erstmals der weltberühmte Dresdner Kreuzchor auftrat. Beim 1. FC Köln standen bekannte Musiker auf der Bühne und animierten zum Mitsingen. Über die bundesweite Ausbreitung seiner Idee freut sich Torsten Eisenbeiser, beharrt aber darauf, dass das Union-Weihnachtssingen einzigartig sei: „Bei uns sind immer noch die Besucher die wichtigsten Sänger. Natürlich haben wir einen Chor zum Anstimmen, aber der wird von den Fans schnell überstimmt.“