Elektronische Musik 2016
Raus aus den Klangblasen!

Moderat Live

Wer sich an Sicherheiten klammern wollte, wurde enttäuscht von diesem Jahr. Es gab reihenweise politische Überraschungen und globale Umstürze. Vergleichbare ästhetische Umwälzungen blieben in der Clubkultur aus. Doch die Szene funktioniert als sensibler Seismograph für immer neue Grenzziehungen.

Raus aus der Blase! So lautete die Aufforderung, die ein aufgeklärtes, liberales Bürgertum (Eigendefinition) sich am Ende des Jahres 2016 selbst zurief. Vorausgegangen waren die Erfolge der sogenannten Alternative für Deutschland bei Wahlen in mehreren deutschen Bundesländern (unter anderem aus dem Stand 24,3 Prozent der Stimmen für die AfD in Sachsen-Anhalt, 20,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, 14,2 Prozent in Berlin), der Beinahe-Triumph des FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer bei der Stichwahl zum österreichischen Bundespräsidenten sowie die allen Prognosen der Meinungsforscher und -macher zuwider laufenden Ergebnisse der Brexit-Abstimmung in Großbritannien und der Präsidentschaftswahlen in den USA. Man hatte das alles nicht kommen sehen. Man war im Glauben, die eigene Präferenz müsse sich als die jeweils „richtige“ Entscheidung ohnehin durchsetzen, realitätsblind geworden. Um zu verstehen, was passiert war, hieß es also: raus aus dem eigenen Milieu, raus aus dem Gebinde aus Arroganz, Standesdünkel und Nicht-wahrhaben-Wollen. Die Frage war nur: wohin?
 
An der Aufsplitterung der elektronischen Musiklandschaft in größere und kleinste Subszenen hat sich im Jahr 2016 nichts geändert. Man könnte diese Landschaft als komplexe Formation aus einzelnen Blasen beschreiben, die in ihrer Gesamtheit gesellschaftliche Strömungen abbilden, aufgreifen, teilweise auch versuchsweise umformen. Vom „Jahr der Repolitisierung“ spricht das Groove-Magazin auf dem Titel seiner letzten 2016er Ausgabe, und in Bezug auf die Blasenbildung bedeutet das eine doppelte Entwicklung: Clubkultur und elektronische Musik organisieren sich an immer neuen sozialen Orten, die durch eine Abgrenzung von Drinnen und Draußen definiert sind. Zugleich werden Grenzziehungen stetig hinterfragt, transzendiert und dynamisch verändert.

Drinnen / draußen

Am 12. Juni 2016 tötete der 29-jährige Wachmann Omar Mateen im Club Pulse in Orlando, Florida 49 Personen und verletzte 53 weitere. Mateen handelte aus Hass auf die gay community, die im Pulse zusammenfand. Auf das Attentat reagierten wenige Künstler so unmittelbar wie Wolfgang Tillmans: Er erhob seine Stimme. Man kennt Tillmans bisher vor allem als Fotograf, der in seinen Arbeiten immer wieder die Riten von Jugendkultur und Techno einfängt und mit seiner gesamten Persönlichkeit für die Verbindung von Club und bildender Kunst steht. Im Sommer 2016 veröffentlichte er erstmals eigene Musik und wurde durch sein Mitwirken am visual album Endless des amerikanischen R'n'B-Musikers Frank Ocean zu einem der deutschen Künstler, denen international die größte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Auf seiner Device Control EP, zwischen House-Tracks und Remixen, verhandelt Tillmans im Stück Angered Son das Massaker im Pulse in einem geisterhaften Gospel. Wieder und wieder singt er eine Zeile aus der New York Times, die sich auf den Vater des Attentäters bezieht: „His son had recently been angered by seeing two men kissing.“
 
An anderer Stelle wies Tillmans darauf hin, wie absurd es ist, Nicht-Diskriminierung als Privileg vorgeführt zu bekommen, eine Tatsache, die er mit einem eindeutigen Imperativ verknüpfte. „What we do here is a crime in most countries / But it's not, there is no victim“, sprechsingt er auf der 2016 / 1986 EP und fordert: „Leave us alone!“ Tillmans Musik will einen Schutzraum behaupten, die Tanzfläche wird hier zur Zufluchtsstätte. Anderswo ging es darum, diese Räume weiter zu öffnen, und zwar im wörtlichen Sinne: Türen aufmachen, Barrieren abbauen, vor allem für Menschen, die anderen Zwängen entkommen sind.
 
So hatte das Leipziger Kulturzentrum Conne Island 2015 den sogenannten „Refugee-Fuffziger“ eingeführt: einen Eintrittspreis von nur 50 Cent für erst vor Kurzem nach Deutschland geflüchtete Menschen. Anfang Oktober 2016 veröffentlichte das Betreiberkollektiv des Conne Island einen offenen Brief, der die daraus erwachsenen Probleme und die eigene Ratlosigkeit zur Diskussion stellte. Die eher symbolische Einlasshürde für einen Teil des Publikums sorgte im Verein mit Sprachbarrieren, unterschiedlichen Feierkulturen und sozialen Codes sowie durch Missbrauch immer wieder für „Auseinandersetzungen und brenzlige Situationen“, wie es in dem offenen Brief heißt. Und weiter: „Sexistische Anmachen und körperliche Übergriffe sind in diesem Zusammenhang im Conne Island und in anderen Clubs vermehrt aufgetreten.“
 
Solche Vorkommnisse spielen im Kleinen eine größere Problemstellung durch: Wie kann eine Praxis, die auf Türpolitik basiert – also auf Gesichtskontrolle, Abweisung, Exklusivität – Grenzen einseitig aufweichen und trotzdem wie gewohnt funktionieren? Es ist eine Frage, die die sozialen Orte für elektronische Musik seit jeher bestimmt und immer neu ausgehandelt werden muss. In Berlin versucht die integrative Partyreihe Faces von Veranstalterin Mo Loschelder, den kulturellen Differenzen auch im Sinne eines Kulturaustauschs zu begegnen: mit DJ-Line-ups, die der gewünschten Mischung des Publikums aus Neuankömmlingen und Alteingesessenen entsprechen, mit arabischer Tanzmusik und Techno, dem Aufeinandertreffen verschiedener Traditionen. Auch bei Faces wird zunächst vor allem die Diversität ausagiert: unterschiedliche Riten, Sozialisationen, Rollenbilder. Konventionen werden in Frage gestellt, die Balance bleibt fragil.

Die Heimzone verlassen

Ein anderes, bereits etabliertes Projekt der musikalischen Verbindung von Migration, Diaspora und neuem Zuhause fand 2016 eine Fortsetzung: Der jüngste Teil der Konzert- und Compilationreihe Heimatlieder aus Deutschland wurde von Gudrun Gut bearbeitet. Mit Vogelmixe – Heimatlieder aus Deutschland Vol. 2 überführt Gut die Heimatlieder, also Folklore von in Deutschland lebenden Migranten aus aller Welt, in ihren eigenen Klangkosmos. Wer sich aus der angestammten Heimzone wagt, macht sich im Feld von postkolonialer Vereinnahmung und Exotismus schnell angreifbar. Das Spannungsfeld von Ent- und Aneignung, Austausch und Ausbeuterei sorgt aber oft genug für ästhetisch interessante Impulse. In verschiedene Geografien, Traditionen und Perioden wiesen 2016 Projekte von Mark Ernestus mit den Musikern der aus Senegal stammenden Ndagga Rhythm Force, von Hanno Leichtmann mit seinem Album Primitiva oder von Andrew Pekler mit Tristes Tropiques. Und der Hamburger Sven Kacirek, der wiederholt auf musikalischen Forschungsreisen in Kenia unterwegs war, veröffentlichte mit Songs From Okinawa seine Sicht auf die traditionelle Musik der südjapanischen Inselgruppe.
 
Im Vergleich dazu findet der Blick von Fatima al Qadiri gerade in unmittelbarster Nähe das Weite: unsere digitale Alltagswelt als quasi auf der Haut getragenes globales Habitat, die Lebensentwürfe von Kunstnomaden, der politische Aktivismus vor der Haustür. Al Qadiri ist im Senegal geboren, in Kuwait aufgewachsen, später zog sie in die USA und lebt heute in Berlin. Sie ist regelmäßig auf den Titelseiten von Lifestyle-Magazinen zu sehen und diskutiert auf Podien über Freaks, Cyborgs und Protestkultur. 2016 steuerte sie eine Kollaboration mit der Poetin und Performerin Juliana Huxtable und der Multimediakünstlerin Hito Steyerl zum Soundtrack der Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst bei. Die Warnsignale in al Qadiris Musik, zuletzt etwa die Demo-Kulissen, Schallwaffen, zerberstenden Klänge und aufbrechenden Strukturen auf ihrem Album Brute, können durchaus stellvertretend für eine generelle Tendenz zur Aneignung überzeichneter, greller Alarmismen gesehen werden. Diese wird vor allem von einer internationalen Community in der deutschen Hauptstadt betrieben, die Platten der in Berlin lebenden Produzentinnen Holly Herndon und Klara Lewis liebt und sich um Labels wie Pan und Veranstaltungsreihen wie Janus und Creamcake organisiert. Die Trennflächen zwischen den Genreblasen Rap, Techno und Avantgarde implodieren hier, Geschlechterrollen werden ins Uneindeutige verschoben, Mainstream-Hits in auf Soundcloud veröffentlichten Edits überaffirmiert und genussvoll kaputtgeschreddert.

Seifenblase Erfolg

Via Soundcloud wurde auch das Gütesiegel „House made in Germany“ in die Welt getragen – auf das in Germany viele aber keinen Pfifferling geben. Wie von Alexis Waltz 2012 an dieser Stelle bereits beschrieben, erreicht eine Mischung aus verträumten Gitarrenakkorden, Gesang, Beats und Sonnenuntergangsstimmung am Sandstrand seit einigen Jahren ein Millionenpublikum. Das nach einem traditionellen House-Verständnis fälschlich Deep House genannte Genre ist an den üblichen Szenekanälen vorbei vor allem bei Streamingdiensten zu extremer Größe angewachsen und als internationales Exportgut ein Renner. Der Produzent Robin Schulz veröffentlichte gegen Ende des Jahres eine Kollaboration mit David Guetta, einem der größten Namen der umsatzstarken EDM-Szene; Felix Jaehn nahm zusammen mit Herbert Grönemeyer die offizielle deutsche Pophymne für die Fußball-EM auf. Ihr überragender Erfolg ist in den deutschen Medien jedoch kaum Thema. Bei Kritikern deutlich besser gelitten ist das Berliner Trio Moderat, das im Frühling 2016 sein drittes Album III veröffentlichte – sein drittes Studioalbum, muss man inzwischen wohl sagen. Denn dass Moderat längst raus sind aus ihrer Blase und in einem Kontext außerhalb des Clubzirkels agieren, bestätigten sie selbst mit einer weiteren Veröffentlichung am Ende des Jahres. Diese versammelt Aufnahmen von verschiedenen Stationen der Moderat-Welttournee, auf der das Trio vor bis zu 10.000 Menschen auftrat. Der Titel des Albums signalisiert unmissverständlich, worum es sich handelt: Live – um das Rock'n'Roll-Format schlechthin.
 
Unterhalb dieser breitenwirksamen Ebene haben sich für elektronische Musik im Jahr 35 nach der Markteinführung der Roland TR-808 Drummachine der Selbsthistorisierungs- und der Selbstwiederaufbereitungsmodus bewährt. 2016 wurden große Jubiläen gefeiert wie 20 Jahre Raster-Noton (das Avantgarde-Techno-Label aus Chemnitz tourte mit einer Großinstallation von Festivals zu Kunsthäusern in Europa) und 25 Jahre Tresor (die Clubinstitution feierte sich mit einem viertägigen Wumms-Techno-Marathon zu Hause in Berlin-Mitte). Zugleich verlässt sich die Tonträgerindustrie auch im elektronischen Bereich zunehmend auf Re-Releases klassischer oder verschollener Werke. Vor allem das Hamburger Label Bureau B gräbt immer noch weitere sogenannte Pioniere aus den Siebziger- und Achtzigerjahren aus, Eigenbrötler mit damals vergleichsweise exotischem Synthesizerpark im Hobbykeller. Die Entwürfe klingen oft genug interessant, zugleich sehr homogen in ihrer Sprache und wirken gerade durch ihre retrospektive Häufung etwas austauschbar. Im Rückblick ist gut zu erkennen, wie die Standards der Maschinen sowie der Zeitgeist (und dabei eher die Definitionsmacht von Tangerine Dream als von Kraftwerk) eindeutige Vorgaben machten: So und nicht anders hat diese Blase zu klingen.