Talmatschi
„Grundsätzlich ist jeder Text erst einmal eine Welt für sich“

Unsere neue Rubrik Тalmatschi möchte sich vertieft und aus erster Hand mit der Übersetzungsarbeit auseinandersetzen, indem wir mit Übersetzer*innen aus dem Deutschen und dem Bulgarischen in verschiedenen Interviews über Literatur, über die Besonderheiten der Übersetzung literarischer Texte sowie über ihren Beruf als Übersetzer*innen sprechen. Hier werden wir euch Übersetzer*innen aus Bulgarien und den deutschsprachigen Ländern vorstellen und den Versuch wagen, den Vorhang zu lüften und einen Blick hinter die Fassade der Übersetzungsarbeit zu werfen.

Das zweite Interview unserer neuen Rubrik widmet sich dem literarischen Übersetzer, Slavist und Skandinavist, Autor zweier sprachwissenschaftlicher Monographien und eines Wörterbuchs sowie Herausgeber mehrerer Anthologien, Sammelbände und Zeitschriftenschwerpunkte, Alexander Sitzmann.

Von Mélody Gugelmann

Alexander Sitzmann
Foto: © privat
Sie übersetzen ganz unterschiedliche Genres, von Lyrik über Prosa und Theater bis hin zu Fachliteratur. Was macht Ihnen am meisten Spaß und warum?
 
An erster Stelle steht bei mir ganz eindeutig die Lyrik, wenngleich dicht gefolgt vom Theater. Ich denke, es hat einerseits damit zu tun, dass es die beiden Genres sind, die ich selbst am liebsten „vorgetragen“ bekomme, andererseits liegt es mit Sicherheit auch daran, dass mir meist mehr Zeit fürs Nachdenken, fürs Tüfteln und eben Dichten bleibt als bei einer Prosaübersetzung von mehreren Hundert Seiten. Grundsätzlich ist aber jeder Text erst einmal eine Welt für sich, obendrein kann man auch nicht jeden Tag alles übersetzen, es gibt Tage, an denen man wirklich nur übersetzerische Knochenarbeit verrichten kann, und davon ist eigentlich immer reichlich vorhanden.
 
Im September dieses Jahres wird Ihnen zusammen mit der Autorin Zdrava Kamenova für ihr Stück „Ein Haus für Schafe und Träume“ und Ihre Übersetzung der Brücke Berlin Theaterpreis verliehen. Ein Preis, der erst zum zweiten Mal vergeben wird. Werden Übersetzungen von Theaterstücken genügend gefördert und geehrt? Und wie steht es um den interkulturellen Austausch in der deutschsprachigen Theaterlandschaft gerade auch in Bezug auf Südosteuropa?
 
Theaterstücke unterscheiden sich bis zu einem gewissen Grad von den anderen Genres, die ich übersetze – die wenigsten „Laien“ lesen Theaterstücke, das passiert hauptsächlich in der Schule, wo man (zumindest zu meiner Zeit) mit „Iphigenie auf Tauris“ oder „Nathan dem Weisen“ gequält wurde, ein „Wilhelm Tell“ für die Schule war immerhin auch dabei. Ohne jetzt mit Begriffen wie „postdramatisches Theater“ o.ä. um mich werfen zu wollen, denke ich, kann man sich darauf einigen, dass Theatertexte (welcher Form auch immer) nicht ausschließlich zum Lesen im stillen Kämmerlein gedacht sind.

Einer Inszenierung braucht vielleicht nicht immer ein Text, ein Drama und/oder eine Handlung zugrundezuliegen, aber ich glaube schon, dass ein Theatertext früher oder später nach einer Inszenierung verlangt, darin liegt schließlich die große Faszination dieser Kunstform. Im Falle von Zdravas Stück wurde nicht nur der Text, sondern auch gleich die ganze Inszenierung auf eine deutsche Bühne transferiert, und es wäre natürlich interessant zu sehen, was deutschsprachige Regisseur*innen aus diesem Stück machen würden.

Generell ist die deutschsprachige Theaterlandschaft nicht unbedingt berühmt dafür, übermäßig offen für übersetzte Theatertexte zu sein, wenn man von Übersetzungen aus dem Englischen, evtl. Französischen und absoluten Klassikern absieht – ein Umstand, den mir bisher niemand zufriedenstellend erklären konnte. An übersetzten Texten oder dem Engagement von Übersetzerkolleg*innen mangelt es jedenfalls nicht, soweit ich das beurteilen kann.

Als Mitglied des deutschsprachigen und mazedonischen Komitees von Eurodram weiß ich jedenfalls, dass es sehr schwierig ist, Förderungen für die Übersetzung von Theatertexten zu lukrieren, was ich persönlich sehr schade finde. Das bedeutet nicht, dass kein Austausch zwischen Theaterschaffenden stattfindet, aber bulgarische Stücke auf deutschen Bühnen haben nach wie vor Seltenheitswert. Im vorliegenden Fall freue ich mich jedenfalls sehr für Zdrava, denn die freie Szene in Bulgarien hat es nicht leicht, sie wird von offiziellen Stellen immer noch stiefmütterlich behandelt, obwohl sie absolut professionell ist und sehr spannendes Theater hervorbringt.
 
Das Stück verbindet gewissermaßen mehrere Kontraste: Die Vergangenheit und die Gegenwart. Globale Themen (wie Menschen auf der Flucht) werden verbunden durch eine bulgarische Persönlichkeit, die Wahrsagerin Vanga (1911-1996). Eine Person, die vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten bekannt ist. Gleichzeitig behandelt das Stück diese schweren Themen mit einem leichten Ton. Welche Geschichte erzählt das Theaterstück und wie einfach oder schwierig ließ sich dieser Text übersetzen?
 
Ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen, kann man wohl sagen, dass Zdravas Stück eine Brücke zwischen den Fluchtbewegungen im Balkankrieg von 1913 und den Ereignissen von 2015 schlägt, die uns ja noch frisch im Gedächtnis sind. Verbunden werden sie in den Visionen oder Träumen der bulgarischen Seherin Vanga. Zeitebenen verschwimmen, Schicksale überlappen sich, die Geschichte der Flüchtlinge von 1913 nimmt die Geschichte der Flüchtenden im Jahr 2015 vorweg: Mütter, die ihre Babys auf der Flucht vor den osmanischen Soldaten ertränken müssen, um nicht von ihrem Geschrei verraten zu werden, oder Väter, die mit ihren Kindern in löchrigen Schlauchbooten übers Mittelmeer fahren, letztlich existiert kein Unterschied.

Auf der anderen Seite steht die Absurdität einer Welt, die wir uns anhand von rechtlichen und ökonomischen Konstrukten zurechtgelegt haben, im Stück versinnbildlicht durch den realen Fall der bulgarischen Kuh Penka, die 2018 ausbüxt und die bulgarisch-serbische, also eine EU-Außengrenze, überquert; ihre Rückholung wird zu einem Politikum, das sogar das Europäische Parlament beschäftigt, Prominente wie Paul McCartney schalten sich ein, um die Kuh zu retten. Eindringlinge, die gegen die Regeln verstoßen und die heile Welt ins Wanken bringen könnten, sind offensichtlich unerwünscht. Ohne Empathie ist menschliches Zusammenleben aber nicht möglich, und gerade in der aktuellen Situation spüren wir doch, wie sehr wir alle miteinander verbunden, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.

Zdrava wählt in ihrem Stück den Traum als Medium, bei ihr ist der Traum der Ort, an dem wir (wieder) Empathie erlernen können. Lustigerweise ist es im Nachhinein gar nicht einfach zu sagen, wie schwer es war, einen bestimmten Text zu übersetzen, selbst wenn man vielleicht während des Übersetzens geflucht hat, sobald er da ist, scheinen alle Mühen vergessen (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel). Was ich in jedem Fall sagen kann, ist, dass mich Zdravas Stück thematisch sehr interessiert hat, und das ist immer eine gute Voraussetzung dafür, um Freude an der Arbeit zu haben.
 
Sie übersetzen die großen zeitgenössischen Autor*innen der bulgarischen Literatur, Alek Popov, Georgi Gospodinov, und erhielten 2004 den Ehrenpreis des bulgarischen Kultusministeriums. Sie sind eines der wenigen Sprachrohre für bulgarische Literatur im deutschsprachigen Raum. Wie würden Sie Ihre Rolle und Aufgabe als Übersetzer beschreiben?
 
Hier muss ich gleich ein wenig widersprechen, und das tue ich sogar gern. Es mag sein, dass ich Anfang der 2000er Jahre noch relativ allein auf weiter Flur war, doch inzwischen hat sich viel getan. Sprachrohre für die bulgarische Literatur sind ja nicht nur die Übersetzer*innen (neben mir gibt es noch gut ein halbes Dutzend ernstzunehmender Kolleg*innen), sondern auch viele andere Menschen, die auf ganz verschiedenen Ebenen wirken – ein einfaches Beispiel wäre der recht junge „eta Verlag“ in Berlin, der sich der Vermittlung bulgarischer und südosteuropäischer Stimmen verschrieben hat, aber auch Kulturvermittler*innen, Journalist*innen, Rezensent*innen, Autor*innen und viele andere mehr haben entscheidenden Anteil.

Übersetzer*innen haben in diesem Bereich sicherlich eine prominente Stellung, doch mittlerweile sehe ich persönlich meine Aufgabe eher im Bereich der künstlerischen Gestaltung von übersetzten Texten als in der Vermittlung derselben über nationale Grenzen hinweg. Bulgarien ist schon lange kein weißer Fleck mehr auf der literarischen Landkarte, und ich bin eigentlich ganz froh darüber, weniger Zeit und Energie in Missionstätigkeiten investieren zu müssen.
 
Wie bewerten sie die aktuelle bulgarische Literaturlandschaft und den Buchmarkt? Und wie groß ist das Interesse an und die Resonanz von bulgarischen Literaturübersetzungen im deutschsprachigen Raum?
 
Ich muss gestehen, dass ich aufgrund der vielen Projekte, an denen ich oft sogar gleichzeitig arbeite, nicht mehr so am Ball bin wie vielleicht noch vor zehn, fünfzehn Jahren, aber ich finde das auch gar nicht schlimm. Da ich aus mehreren Sprachen übersetze, wäre es ohnehin utopisch, überall auf dem Laufenden bleiben zu wollen, vielmehr noch, es wäre vermutlich kontraproduktiv. Ich verfolge also mit, was „meine“ Autor*innen so treiben, beobachte den einen oder anderen, den ich vielleicht schon seit längerer Zeit auf meiner Liste habe, lese Periodika wie z.B. den „Literaturen vestnik“, sehe mir an, was Kolleg*innen aus dem Literaturbetrieb über einzelne Bücher oder Texte schreiben, und halte so Kontakt zu den Literaturen, die ich übersetze.

Was das Interesse an und die Resonanz von Übersetzungen aus dem Bulgarischen angeht, denke ich, kann man sich eigentlich nicht beschweren. Vor Jahren hat eine Kollegin eine Studie mitsamt Bibliographie zu in deutscher Übersetzung veröffentlichten bulgarischen Büchern publiziert, die den Zeitraum von 1990 bis 2009 umfasst – dort sind etwa 20 Bücher gelistet, und seither dürfte sich die Zahl mehr als verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht haben, wohlgemerkt in der halben Zeit.

An Besprechungen in der Presse mangelt es im Prinzip auch nicht, bulgarische Autoren werden regelmäßig zu Lesungen und Festivals eingeladen, bekommen Aufenthaltsstipendien und landen sogar ab und an auf der Shortlist für einen Preis. Es ist auch immer eine Frage der Perspektive, aus bulgarischer Sicht wünscht man sich verständlicherweise mehr Präsenz, es könnte im Grunde immer mehr sein, doch man ist ja mit seiner Literatur nicht allein auf dieser Welt.
 
Was lesen Sie momentan? Und welche/r zeitgenössische/r bulgarische/r Autor*in sollte unbedingt übersetzt werden?
 
Jetzt im Augenblick lese ich „DMZ Colony“ von Don Mee Choi, eine Art Gewebe aus Lyrik, Prosapassagen, Fotos und Zeichnungen, das seinen Ausgangspunkt in der demilitarisierten Zone zwischen den beiden koreanischen Staaten nimmt, aber weit darüber hinausweist. Nachdem sich kürzlich ein Freund begeistert über „Die Jahre“ von Annie Ernaux geäußert hat, liegt das Buch als nächstes bereit, und ich bin schon sehr gespannt.

Was die zeitgenössische bulgarische Literatur betrifft: In mir ist inzwischen die Überzeugung gereift, dass Texte, die wirklich übersetzt werden soll(t)en, früher oder später auch übersetzt werden. Und im Augenblick würde es mir wesentlich leichter fallen, beispielsweise einzelne Gedichte zu benennen als einzelne Autor*innen. Das bedeutet nicht, dass es keine spannenden Autor*innen gäbe, manch einer bzw. einem fehlt vielleicht noch ein wenig die Konstanz, von manch anderer bzw. anderem habe ich noch nicht genug gelesen, einige (vielleicht gar nicht mehr so zeitgenössische) habe ich zwar im Hinterkopf, aber mir fehlt momentan die Zeit, um sie zu übersetzen und anzubieten.

Deshalb vermeide ich es auch, Namen zu nennen, ich möchte keine Erwartungen wecken, die ich nicht erfüllen kann, denn bei einer Produktion von momentan bis zu sechs Büchern im Jahr bleibt einfach nicht viel Zeit für anderes.
 
Können Sie als Übersetzer selber auswählen, welche Autor*innen und Werke Sie übersetzen? Wie läuft dieser Prozess von der Auswahl der Literatur bis hin zur Publikation in einem deutschsprachigen Verlag?
 
Auch nach über zwanzig Jahren im Beruf sind mir die Prozesse und Mechanismen, die zur Veröffentlichung eines übersetzten Buches führen, noch immer nicht zu einhundert Prozent klar. Grundsätzlich, wenn man einmal von ökonomischen Zwängen absieht, kann ich natürlich selbst entscheiden, ob ich ein Buch übersetze oder nicht, leider ist es aber nicht so, dass ich jedes Buch, das ich gern übersetzen würde, auch veröffentlicht bekomme.

Es gibt sehr viele Faktoren, die eine Rolle spielen, nicht nur die Qualität des Buchs, sondern beispielsweise auch ganz banale Dinge wie die Möglichkeit, Fördergelder für die Übersetzung zu bekommen. Inzwischen ist es so, dass ich nur noch in den allerseltensten Fällen mit Texten bei Verlagen hausieren gehe, meist werden mir Bücher angeboten, das heißt der Verlag hat die Auswahl schon getroffen, oder man bittet mich, zu einem Buch ein Gutachten zu schreiben, und entscheidet dann.

Wie die Verlage zu diesen Büchern kommen, ist unterschiedlich, oft aufgrund von Empfehlungen durch Autor*innen, Übersetzer*innen oder Kulturvermittler*innen, manchmal auch einfach, weil ein Buch oder ein/e Autor*in in ihrem bzw. seinem Heimatland großen Erfolg hat, weil man die bzw. den Autor*in bei einer Lesung oder einem Festival gesehen oder kennengelernt hat, weil Auszüge aus einem Buch in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht wurden etc., auch die verschiedenen Förderprogramme spielen selbstverständlich eine Rolle.

Das Anbieten eines Buches ist meist mit viel unbezahlter Arbeit verbunden, und am Ende gibt es dann keinerlei Garantie auf Erfolg, weshalb ich dieses Vorgehen tatsächlich nur noch in Betracht ziehe, wenn das betreffende Buch eine Herzensangelegenheit für mich ist und ich voll und ganz dahinterstehe.

Ihr Gesamtwerk umfasst mehr als 250 Übersetzungen aus dem Bulgarischen, dem Mazedonischen und den skandinavischen Sprachen. Wird man zum Übersetzer geboren oder ist es ein harter (Arbeits-) Weg dorthin?
 
Beides. In meinem Fall ist es tatsächlich so, dass ich zweisprachig mit Bulgarisch und Deutsch aufgewachsen bin, aber das allein macht natürlich noch keinen Übersetzer aus mir. Allerdings hat es mir wahrscheinlich einige Türen geöffnet, so lernte ich zum Beispiel die viel zu früh verstorbene Valeria Jäger durch diesen Umstand kennen, mit der mich eine sehr schöne Freundschaft verband und durch die ich Ende der Neunziger überhaupt erst zum Übersetzen kam.

Obendrein ist es für mich ganz natürlich, mich zwischen Sprachen zu bewegen, unabhängig davon, ob es sich um meine Muttersprache(n) handelt oder nicht. Literatur zu übersetzen ist jedenfalls immer auch mit harter Arbeit verbunden, denn selbst wenn mit den Jahren die Erfahrung kommt, lernt man in diesem Beruf nie aus, sowohl was die eigenen sprachlichen Fertigkeiten betrifft als auch in Bezug auf die Anforderungen des zu übersetzenden Texts; erst heute früh habe ich mich beispielsweise für einen hübschen kleinen Text mit der Terminologie des Hüttenwesens im Dänischen beschäftigt, ich habe einmal einen bulgarischen Roman übersetzt, der mir gefühlt ein halbes Musikstudium abverlangt hat, mich bei einer dänischen Ballade des 18. Jahrhunderts auf alkäische Verse gestürzt, für einen anderen bulgarischen Roman in Hexametern geschrieben etc.

Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass man vieles lernen kann, doch ohne Leidenschaft für die Literatur und ohne ein gewisses Talent zum Schreiben wird man vermutlich kein guter literarischer Übersetzer. Und obwohl durchaus einige der romantischen Vorstellungen, die mit diesem Beruf verbunden werden, zutreffen, sollte man sich bewusst sein, dass die alte Künstlerfaustregel von zehn Prozent Talent und neunzig Prozent Schweiß auch, ja vielleicht sogar besonders auf das Übersetzen von Literatur zutrifft.
 
Sie lehren am Institut für Slawistik der Universität Wien und decken in der Südslawistik so zu sagen die bulgarische Sprache ab. Eine Sprache, die an slawischen Instituten vieler Universitäten im deutschsprachigen Raum nur marginal oder gar nicht angeboten wird. Warum? Und wie stark wirkt sich das auf den interkulturellen Austausch gerade in der Literatur und im Kulturbereich aus?
 
Auch hier darf ich noch einmal kurz widersprechen, ich arbeite am Institut mit sehr kompetenten Kolleg*innen zusammen, sowohl innerhalb der Bulgaristik als auch sprachenübergreifend. Ich trage (m)einen Teil zur bulgaristischen Grundversorgung im Bereich der Sprach- und Kulturwissenschaft bei, unsere Gastlektor*innen übernehmen hingegen traditionell die Literaturwissenschaft, Seminare können aber auch bei Kolleg*innen besucht werden, die keine ausgewiesenen Bulgarist*innen sind.

Die Frage, warum Bulgarisch bzw. die Bulgaristik oft nur marginal vertreten ist, ist nicht so leicht zu beantworten. Einerseits liegt es sicherlich am nicht übermäßig großen Interesse von Studierendenseite und der Öffentlichkeit generell, andererseits an der teils mangelhaften finanziellen Ausstattung der Institute und damit auch am fehlenden politischen Willen, in Fächer wie das unsere zu investieren. Natürlich bedingen sich diese beiden Faktoren bis zu einem gewissen Grad gegenseitig – wenig Interesse von Studierenden bedeutet weniger Dotierung, fehlende Finanzierung wiederum wirkt sich auf das Angebot und damit auch auf die Attraktivität eines Studiengangs aus.

Das bedeutet nicht, dass wir keinen Handlungsspielraum haben, um unsere Disziplin(en) zu entwickeln, aber er ist zumindest eingeschränkt. Natürlich spielen Universitäten eine Rolle im interkulturellen Austausch, aber im Endeffekt sind es doch Menschen, nicht Institutionen, die diesen Austausch möglich machen. Ich wäre begeistert, wenn wir beispielsweise auch eine Mazedonistik und Belarusistik hätten, aber selbst ohne diese institutionelle Verankerung am Institut werden die mazedonische und belarusische Literatur, Sprache und Kultur erforscht, werden Gastwissenschaftler eingeladen, Artikel geschrieben, Lehrveranstaltungen abgehalten etc.

Der Literatur- und Kulturbetrieb hat meiner Erfahrung nach aber ohnehin nur bedingt mit dem zu tun, was an Universitäten passiert, Überschneidungen sind ohne Zweifel vorhanden, doch eigentlich handelt es sich zunächst einmal um zwei voneinander getrennte Welten.
 
Die letzten Monate haben fast alle Länder Europas unter einem temporären Lockdown verbracht. Wie haben Sie als freiberuflicher Übersetzer diese Zeit erlebt?
 
Für mich hat sich, was meinen Arbeitsalltag und überhaupt meine Tätigkeit als Übersetzer angeht, eigentlich kaum etwas verändert. In Zeiten, in denen ich viel zu tun habe, lebe ich sowieso in einer Art freiwilligem Lockdown, wobei das mit Sicherheit auch eine sehr individuelle Angelegenheit ist. Für die meisten Aufträge bzw. Projekte hatte ich schon vorher zugesagt, während des Lockdowns kamen noch eine Graphic Novel und ein paar kleinere Texte hinzu. Ich wusste also vorher, was mich im Frühjahr bzw. Frühsommer erwartet und wie es finanziell aussieht, was natürlich ein großer Vorteil gegenüber beispielsweise Musikern oder Schauspielern ist.

Dass ich an der Universität angestellt bin, wenngleich nur mit Halbjahresverträgen und einem sehr bescheidenen Gehalt, ist in dieser Situation ebenfalls nicht von Nachteil. Und auch wenn mir der direkte Kontakt zu Familie und Freunden gefehlt hat, ist mir das Einsiedlerleben doch nicht ganz fremd, an Beschäftigung mangelt es mir ohnehin nie. Ich weiß aber von Kolleg*innen, die es wesentlich härter getroffen hat, die teilweise nachts übersetzen mussten, weil sie tagsüber ihre Kinder unterrichtet haben, denen wichtige Einnahmen durch entfallene Lesungen weggebrochen sind etc., und zumindest hier in Österreich hat man sie von offizieller Seite relativ lang damit allein gelassen, die vielbeschworene Systemrelevanz von Kunst und Kultur hat offenbar nicht allen eingeleuchtet.
 
Zum Schluss ein Blick nach vorne: Haben Sie kurz- und mittelfristige Pläne für Übersetzungen und Projekte, die Sie machen möchten?
 
Da ich nicht so gern über ungelegte Eier spreche, werde ich auch hier ein wenig ausweichend antworten: Kurzfristig ist es mein Ziel, mir ein bisschen Luft zu verschaffen, einiges, was sich über die letzten Jahre angestaut hat, abzuarbeiten, um Raum für Neues zu schaffen. Mittelfristig habe ich eine ganze Reihe von Projekte, sowohl übersetzerischer als auch im weitesten Sinne wissenschaftlicher Natur, die (gedanklich) verschieden weit gediehen sind, und es wird zuerst einmal wichtig sein, herauszufinden, welche davon sich verwirklichen lassen. Was dann wirklich passieren wird, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt...
 
Alexander Sitzmann, geb. 1974 in Stuttgart, Studium der Skandinavistik und Slawistik in Wien, forscht und lehrt an der dortigen Universität; seit 1999 freiberuflich als literarischer Übersetzer aus dem Bulgarischen, Mazedonischen und den skandinavischen Sprachen tätig; Autor zweier sprachwissenschaftlicher Monographien und eines Wörterbuchs sowie Herausgeber mehrerer Anthologien, Sammelbände und Zeitschriftenschwerpunkte; Mitglied der Jury für den Übersetzerpreis der Stadt Wien; Gutachter u.a. für die Stadt Wien, das Bundesministerium für Kunst und Kultur, Traduki, KulturKontakt Austria sowie für verschiedene Verlage und Institutionen im In- und Ausland; Mitglied des mazedonischen und des deutschsprachigen Komitees von Eurodram; 2004 Ehrenpreis des bulgarischen Kultusministeriums, 2007 – 2015, 2018 und 2019 Übersetzerprämie des bm:ukk/BKA, nominiert für den Brücke Berlin Preis 2012 und 2014 sowie für den Internationalen Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt 2014 (jeweils Shortlist), zahlreiche Stipendien und Veröffentlichungen, 2016 Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung, 2020 Brücke Berlin Theaterpreis.

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