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30. Juni 2023
Rede anlässlich des Afghanistan-Schwerpunkts im "Goethe-Institut im Exil"

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Nadja Anjuman: Makes No Sense (1999)
Music makes no sense anymore—why should I compose,
I am abandoned by time whether I sing or am still.
When words are poison to the tongue, why taste?
Stifling songs is my abuser’s strongest skill.
No one anywhere notices or cares whether
I cry, whether I laugh, whether I die or am still,
here, in this captive’s cell with grief and remorse;
why live, if my tongue is sealed, still.
Slow down, heart that leaps to greet sweet spring,
my broken wings will temper this temporary thrill.
Though melodies drain from memory, stale with silence,
songs waft up from soul—whispers still. 
One thought of the day I will break the cage
makes me croon like a carefree drunk until
they can see I am no wind-trembled willow tree—
an Afghan woman wails and sings, and wail and sing I will!

Die junge afghanische Dichterin Nadja Anjuman hat dieses Gedicht mit gerade einmal neunzehn Jahren geschrieben, noch unter dem ersten Taliban-Regime, das das Leben der Frauen mit unerträglichen Verboten reglementierte. Nach Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in den ersten Versen drücken die letzten Zeilen vorsichtigen Optimismus und Kampfbereitschaft aus. Das Herz lässt sich nicht einzwängen, die Lieder nicht unterdrücken. Und am Ende steht die Hoffnung, den Käfig zu zerbrechen und die Stimme zu erheben: „klagen und singen werde ich“.

Nadja Anjumans Familie hatte schon früh ihre poetischen Ambitionen unterstützt, doch als die Taliban 1995 die Kontrolle übernahmen, musste sie ihre Schulausbildung abbrechen. Literatur wurde zu einem wichtigen Zufluchtsort. Nadja Anjuman traf sich im Geheimen mit anderen literaturbegeisterten Frauen, die mit Nähkörben zu ihren Treffen im Verborgenen gingen, um ihre Notizbücher darin zu verbergen. Diese „Schule der goldenen Nadel“, wie sie sich nannte, erhielt Unterricht von einem Literaturprofessor und tauschte sich über persische Literatur und wichtige Werke der Weltliteratur aus.

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 konnte Nadja Anjuman endlich an der Universität Herat studieren und veröffentlichte im Jahr 2005 einen ersten eigenen Lyrikband, Gul-e-Dodi—Dunkle Blüte. Doch scheint ihr Ehemann ihren literarischen Erfolg geneidet zu haben. Jedenfalls vermuten viele, dass es deshalb zu Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten kam. Im November 2005 starb Nadja Anjuman an Folgen der brutalen Gewalt ihres Ehemanns.

Die Geschichte von Nadja Anjuman erinnert an die Gefahren, der insbesondere Frauen, aber auch die allgemeine Zivilbevölkerung in Afghanistan ausgesetzt sind, besonders seit der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021. Viele Afghaninnen und Afghanen mussten seither ihr Land verlassen und leben im Exil—in den Nachbarländern, in Europa und auch in Deutschland. Der Großteil der afghanischen Kulturszene musste fliehen und kämpft dafür, ähnlich wie damals Nadja Anjuman, dass ihre Stimme nicht verstummt. Leben im Exil bedeutet zwar eine gewisse Sicherheit, aber eben auch Trauma, Heimweh und eine ungewisse Zukunft. Dazu kommen auch ganz praktische alltägliche Herausforderungen des Überlebens in der neuen Heimat oder besser: der Fremde. Umso wichtiger sind Literatur, Kunst, Film und Musik als Medien und Foren, um den Schmerz zu bewältigen und neue Verbindungen zu schaffen.

Ein Blick auf die heutige Welt zeigt: Kunst und Kultur finden immer häufiger im Exil statt. Das gilt für Afghanistan, die Ukraine, Iran, Sudan… die Liste der Länder, in denen Menschen zur Flucht gezwungen sind, wird immer länger. Auch die Arbeit des Goethe-Instituts in diesen Ländern ist stark davon betroffen. So musste das Institut in Kabul nach einer wechselvollen Geschichte seinen Betrieb 2017 aus Sicherheitsgründen einstellen. Seit 2021 gibt es in Afghanistan keine Beschäftigten mehr vor Ort, und auch die meisten der langjährigen Partner*innen des Goethe-Instituts haben das Land seither verlassen. Ibrahim Hotak, der langjährige Leiter des Kabuler Instituts, der auch gleich sprechen wird, arbeitet seit 2020 im Berliner Hauptstadtbüro des Goethe-Instituts. Er ist nun als Kurator für den Länderschwerpunkt Afghanistan des „Goethe-Instituts im Exil“ mit verantwortlich.

Das „Goethe-Institut im Exil“ wurde im Herbst 2022 als Antwort auf die zunehmenden Fluchtbewegungen im Gefolge der weltweiten geostrategischen Polarisierungen gegründet. Es versteht sich als Plattform für den Austausch mit Partnerinnen und Kulturschaffenden aus Ländern, in denen das Goethe-Institut keine reguläre Kulturarbeit vor Ort mehr leisten kann. Das Goethe-Institut im Exil unterstützt den künstlerischen und diskursiven Austausch mit den Gastländern. Es bietet Schutzräume für Exil-Gemeinschaften in Deutschland. Und es macht Angebote für deren Vernetzung mit hiesigen Kulturszenen. Es geht es darum, den Austausch mit Kulturschaffenden und Partnernetzwerken aus Ländern im Krieg oder mit repressiven Regimen aufrechtzuerhalten.

Das Goethe-Institut im Exil hat im Oktober 2022 mit einem großen Ukraine-Schwerpunkt eröffnet; von Januar bis März 2023 folgte eine Veranstaltungsreihe zum Iran. Mit dem Festival an diesem Wochenende wird bis zum Jahresende Afghanistan in den Mittelpunkt gerückt. Bis Sonntag gibt es ein eindrucksvolles, vielseitiges Programm mit Konzerten, Filmvorführungen, Lesungen, Theateraufführungen, Ausstellungen, Performances, Radiosendungen und Diskussionen der afghanischen Exil-Community und der deutsch-afghanischen Diaspora-Kunstszene. So präsentiert die Ko-Kuratorin des Festivals Armeghan Taheri beispielsweise das diasporische Kultur- und Literaturmagazin „What’s Afghan Punk Rock, Anyways?“. Ein digitaler Poetry-Slam in Kooperation mit dem Simurgh Centre aus Neu-Delhi blickt auf die afghanischen Exil-Diasporen auch in anderen Ländern. Unter dem Titel „Die Rolle der Kultur in den Jahren 2001-2021“ wird die Verantwortung von internationalen Kulturinstitutionen kritisch diskutiert. Und das gesamte Wochenende über wird das afghanische Kunstkollektiv „ArtLords“ ein kollaboratives Wandbild erstellen. Nach der Sommerpause geht das Programm dann weiter, mit einem Fokus auf der afghanischen Literatur.

Dieses tolle Programm wäre nicht möglich ohne die Unterstützung engagierter und mutiger Menschen. Daher möchte ich an dieser Stelle allen Beteiligten danken, darunter vor allem:

- der Ko-Kuratorin des Festivals, Armeghan Taheri

- allen beteiligten Partnerorganisationen und Kulturschaffenden—ohne Sie würde das Programm hier nicht möglich sein

- und last but not least dem Team vom Goethe-Institut im Exil, insbesondere Olga Sievers, Marc-André Schmachtel und Ibrahim Hotak.

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