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28. August 2023
Rede zur Verleihung der Goethe-Medaille 2023

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Ein herzliches Willkommen Ihnen allen zur diesjährigen Verleihung der Goethe-Medaille an Gaga Chkheidze aus Georgien, Yi-Wei Keng aus Taiwan und das Künstlerinnen-Kollektiv OFF-Biennale aus Ungarn, vertreten durch Nikolett Erőss und Hajnalka Somogyi!

„Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß! … Solch ein Gewimmel möchte ich sehen, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“ Diese ermutigenden Worte legt Johann Wolfgang von Goethe, der heute vor 274 Jahren in der freien Reichsstadt Frankfurt am Main geboren wurde, seinem Protagonisten Faust im Schlussmonolog des zweiten Teils der Tragödie in den Mund.
 

Freiheit ist auch für unsere Preisträgerinnen und Preisträger ein hohes Gut, das täglich erobert werden muss. Sie kommen alle aus Demokratien. Aber sie arbeiten in Kontexten, in denen die Freiheit der Rede, der Kunst und der Wissenschaft zunehmend bedroht ist. In Taiwan gilt das nicht für die eigene Regierung. Doch der Blick auf den übermächtigen Nachbarn China und das Wissen um die Repression in Hongkong machen die Freiheit besonders wertvoll und schützenswert. In Ungarn und Georgien schränken die Regierungen die Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit „nur“ indirekt, aber doch massiv und spürbar ein—durch Entlassungen von kritischen Kulturmachern und die Besetzung wichtiger Leitungspositionen mit kulturfernen, aber regierungstreuen Politikern; durch die finanzielle Austrocknung der unabhängigen Kulturszene; durch Gesetze zum angeblichen Schutz der Jugend, die Bibliotheksbestände zensieren und die Thematisierung von LGBTQ und alternativen Lebensformen unterdrücken. Wir werden in den Filmporträts und Laudationes zu den Preisträgern noch einiges dazu erfahren.

Die Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit ist aber keineswegs nur in Georgien, Ungarn und anderen Ländern des ehemaligen sowjetischen Machtblocks bedroht. Auch in Westeuropa und den USA, wo gewissermaßen die Geburtsurkunden der demokratischen Freiheitsrechte unterzeichnet wurden, werden diese schleichend eingeschränkt. Um die künstlerischen und intellektuellen Freiheiten stehe es so schlecht wie seit den Fünfzigerjahren nicht mehr, seit der Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Ära, konstatiert Steven Lavine, der Vorsitzende des Advisory Board des Thomas Mann House in Los Angeles (Interview in der FAZ, 31.5.2023). In Italien versucht Giorgia Melonis rechte Regierung, die angebliche „linke Hegemonie“ der kulturellen Szene zu brechen und neue, nationalistische kulturelle Narrative zu etablieren—vor allem durch die systematische Neubesetzung wichtiger Posten in den Kulturinstitutionen. Und in Deutschland? Auch hier ist ein heftiger Kulturkampf entbrannt, mit offenem Ausgang. Wie frei darf Kunst sein? Wessen Rechte müssen respektiert, welche Stimmen—auch die toter Autoren—zensiert oder ediert werden? Hier geht es (noch) nicht um rechtliche Einschränkungen. Doch die Debatten um die Documenta und den Antisemitismus, um verpflichtende Schullektüren, um die Legitimität kultureller Aneignung oder die Verbindlichkeit einer sogenannten deutschen Leitkultur wurden und werden so scharf geführt, dass viele Kulturschaffende und Veranstalter Vorsicht walten lassen und fast schon Selbstzensur üben.

Freiheitsrechte, das wird überall deutlich, sind nicht ein für alle Mal errungen. Sie müssen genutzt, bekräftigt und verteidigt werden—gegen gesetzliche Einschränkungen, gegen schleichende Aushöhlung und gegen stillen Konformismus. Wie denken unser Preisträger und Preisträgerinnen über Freiheit? Das habe ich sie vor unserer heutigen Festveranstaltung gefragt.

Yi-Wei Keng fasst seine Gedanken so zusammen: „Freiheit ist die Tätigkeit der Fantasie“. Und: „Freiheit bedeutet, den Mut zu haben, dem anderen zu begegnen“. Yi-Wei Keng betont also den Aspekt von Kreativität, Offenheit und Begegnung.

Gaga Chkeidze skizziert ein ganzes Programm der Selbstermächtigung und verbindet Freiheit mit Wahrheit und—ein schöner Gedanke—mit Glück. Erst der erfolgreiche Kampf gegen Selbstzensur, erst die Stärkung der eigenen inneren Freiheit, so verstehe ich ihn, gibt die Kraft, die „Festung der Freiheit“ in der gesellschaftlichen und politischen Welt zu erstürmen.

„Freiheit ist der Anfang und die Vollendung des Glücks. Kampf um Freiheit ist die Verteidigung der eigenen Kindheit. Nur aufrichtige Menschen sind der Freiheit würdig. Freiheit ist: die Wahrheit zu denken und sie aussprechen zu können. Freiheit ist: den Sklaven in sich selbst bekämpfen. Alle Menschen sind im Innern frei. Es bedarf der Kraft, es auszuleben. Die Freiheit ist eine Festung, die erstürmt werden muss.“

Hajnalka Somogyi und Nikolett Eröss geht es vor allem um die gemeinsame Erarbeitung kollektiver Freiheitsräume. Und sie warnen vor den Einschränkungen der Freiheitsrechte durch einen zu starken Fokus auf Sicherheit, mit dem viele europäische Politiker auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine reagiert haben.

„Im öffentlichen Diskurs in Europa scheint das Ideal der Sicherheit heute viel stärker im Vordergrund zu stehen als das der Freiheit. Wir möchten betonen, dass Freiheit und Sicherheit sich nicht gegenseitig ausschließen und deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Sicherheit, die wir nicht kollektiv schaffen, ist teuer erkauft, mit Regeln und Kontrolle von oben, mit Mauern und Drahtzäunen. Wir müssen unsere sicheren Räume selbst und gemeinsam schaffen, indem wir uns gegenseitig die Möglichkeit geben, zu wählen, zu lernen und Erfahrungen zu machen, und indem wir uns die ganze Zeit gegenseitig den Rücken freihalten.“

Voneinander zu lernen und kollektive Räume der Freiheit nach außen zu schützen; zugleich aber auch nach innen, in diesen Räumen, individuelle Freiheitsrechte zu respektieren: das scheint mir ein ganz zentraler Appell. Denn nicht nur nationalistische, rassistische, antisemitische Ideologien negieren Freiheitsrechte; auch rigide moralische Forderungen identitätspolitischer Bewegungen können Kreativität und Wahlfreiheit einschränken. Freiheit der Kunst, Wissenschaft und Rede wird—das habe ich schon eingangs angedeutet— nicht nur durch staatliche Eingriffe gefährdet. Auch soziale Bewegungen, rechte wie linke, wollen oftmals Kulturschaffende und Intellektuelle vereinnahmen. Die heftigen Debatten hierzulande darüber, wer über was schreiben und sprechen, welche Texte übersetzen, welche Worte benutzen und wovon schweigen soll, zeugen von solchen Bedrohungen der Freiheit.

Diese widersprüchlichen Aspekte von Freiheit erinnern an Isaiah Berlins einflussreiche Unterscheidung zwischen „negativer“ und „positiver“ Freiheit, die er 1958 vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus und des stalinistischen Terrors skizziert hat. „Negative Freiheit“ rekurriert auf die Erfahrung von totalitären Regimen und verweist auf die zentrale Bedeutung von Räumen, die nicht politisch und staatlich kontrolliert, sondern vom Individuum eigenständig gestaltet werden. „Positive Freiheit“ fragt dagegen nach den Zwecken, zu denen die Freiheit verwendet wird, und den Mitteln, die es für diese Gestaltung braucht. Mit einem positiven Begriff von Freiheit lässt sich aber auch die Einschränkung der negativen Freiheit begründen, so Berlin, und er warnt vor der „brutalsten Tyrannei“, in die die Beherrschung der Freiheitsräume im Interesse der Durchsetzung einer bestimmten Lebensform umschlagen kann.

Wir sollten, davon bin ich überzeugt, uns für beide Aspekte von Freiheit engagieren. Es gilt, die individuellen Freiheitsrechte der Künstler und Intellektuellen zu verteidigen, gegen staatliche Übergriffe, aber auch gegen moralische, gesellschaftliche Indienstnahmen. Zugleich gilt es, kollektive Räume zu gestalten und zu verteidigen, in denen Menschen frei denken und kreativ werden können—ohne jedoch im Namen der Freiheit ausschließend und freiheitsfeindlich zu agieren.

Ich freue mich, dass unsere Preisträger und Preisträgerinnen beherzt und engagiert für diese Freiheitsrechte einstehen! Und ich hoffe sehr, dass die Verleihung der Goethe-Medaille sie dabei unterstützt—indem sie die Wichtigkeit ihres Engagements ehrt, es sichtbar macht und dadurch hoffentlich auch zum Schutz der freiheitlichen Räume und Netzwerke beiträgt, die sie gemeinsam mit ihren Mitstreitern in ihren Gesellschaften geschaffen haben.

Ehe ich nun das Wort an Staatsminister Lindner übergebe, möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und beim Vorstand des Goethe-Instituts, Johannes Ebert und Rainer Pollack, und bei unseren Partnern bedanken, ohne die dieser Festakt und das vielfältige Kulturprogramm mit den Preisträgern in Weimar nicht möglich gewesen wäre:

—bei Thomas Oberender und der Kommission zur Verleihung der Goethe-Medaille, die die Preisträgerinnen und Preisträger ausgewählt haben;
—bei der Deutschen Welle für die hervorragenden Filmporträts über unsere Preisträgerinnen und Preisträger, die Sie heute zum ersten Mal sehen werden;
—beim Kunstfest Weimar für die gelungene Kooperation beim Kulturprogramm mit unseren Preisträgerinnen und Preisträgern, beim Lichthaus Kino, beim Team von Polymer DMT und der Taipei-Vertretung in Berlin für ihre Unterstützung bei der Installation „Home Away From Home“;
—beim UNESCO-Lehrstuhl für Transcultural Studies an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar, insbesondere Herrn Pinto, dessen Studierende heute eigens für den Festakt komponierte Stücke präsentieren; ich bin gespannt, was uns in diesem Jahr für Klänge erwarten werden;
—bei der Stadt Weimar für die mietfreie Überlassung der Weimarhalle;
—und schließlich bei der Klassik Stiftung Weimar für ihre immer verlässliche Unterstützung in vielen Belangen.

Herzlichen Dank an Sie alle! Und nun wünsche ich uns einen nachdenklichen, aber auch fröhlichen Festakt! Mit diesen Preisträgern und Preisträgerinnen haben wir allen Grund, gemeinsam zu feiern und optimistisch zu bleiben, dass wir Freiheitsräume offenhalten können.

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