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Dialog der Hemisphären

Die peruanische Theatergruppe Ópalo im Stück „In welcher Jahreszeit sind wir?“
Die peruanische Theatergruppe Ópalo im deutschsprachigen Stück „In welcher Jahreszeit sind wir?“ | Foto: Eduardo Irujo

Der peruanische Theaterregisseur Jorge Villanueva erinnert sich daran, wie seine Begegnung mit der deutschen Kultur dabei half, die blutige Vergangenheit seines eigenen Landes zu reflektieren.
 

Von Jorge Villanueva

Das Goethe‑Institut in Lima, Peru, bringt seit vielen Jahren der peruanischen Gesellschaft die deutsche Kultur über einen zeitgenössischen Fokus, durch einen ständigen Austausch und die Zusammenarbeit mit zahlreichen peruanischen Künstler*innen näher. Seit meiner Zeit als junger Student habe ich regelmäßig an den vom Goethe‑Institut angebotenen Veranstaltungen teilgenommen. So kam es, dass ich zum ersten Mal mit Cineasten wie Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog, Volker Schlöndorff, Wim Wenders und vielen anderen in Berührung kam. Darüber hinaus besuchte ich Konferenzen zu philosophischen Themen und Konzerte und konnte stundenlang intellektuelle Debatten aus der Nähe verfolgen. Seit den 80er‑Jahren haben mir diese Aktivitäten den Zugang zu einem kulturellen Raum ermöglicht, der die traditionellen Formate sprengte und jenseits des Massenkonsums und der Unterhaltungskultur existierte.

Im Jahr 1996 organisierte die Katholische Universität von Peru anlässlich des 40. Todestages von Bertolt Brecht eine Kollaboration mit dem Goethe‑Institut. Dazu gehörte auch eine Inszenierung mit dem Titel Coraje en el exilio unter der Leitung von Chela de Ferrari. Das Stück erzählt von der Zeit, in der Bertolt Brecht im Exil lebte. Ich durfte mich als Schauspieler an dieser Inszenierung beteiligen und erinnere mich an die Wirkung, die diese in der Szene hinterließ. Man bedenke: Alberto Fujimori hatte einen Putsch vollführt und alle Regierungsinstitutionen unter seine Herrschaft gebracht. Ich erinnere mich deutlich daran, dass César Hildebrandt, einer unserer wichtigsten und anerkanntesten Journalisten, die folgende Anmerkung machte, als er das vom Goethe‑Institut geförderte Stück sah: „Was für ein wundervolles und vielschichtiges Land, in dem es in solch schweren Zeiten noch Künstler gibt, die Lieder von Bertolt Brecht singen.“

Meine Zusammenarbeit als Theaterregisseur mit dem Goethe‑Institut begann im Jahr 2008. In fünf aufeinanderfolgenden Jahren führten wir mit diversen Stücken, die wir mit der Theatergruppe Ópalo auf die Bühne brachten, eine in unserer Theaterszene bisher unbekannte Dramaturgie ein. So lernte unser lokales Publikum zum ersten Mal zeitgenössische deutsche und deutschsprachige Stücke kennen.
Es ist interessant, darüber nachzudenken, wie diese Stücke, die auf einer anderen Hemisphäre mit anderen Problematiken, Realitäten und Kontexten verfasst wurden, beim peruanischen Publikum einen derart tiefen Eindruck hinterlassen konnten. Unter anderem sind Themen wie Migration, Ausgrenzung, Entwurzelung und Krieg äußerst sensible Aspekte für unsere Gesellschaft. Darüber hinaus gibt es in unserer jüngeren Vergangenheit eine Zeit, die wir noch nicht bewältigt haben. Unser Land erlebte zwischen 1980 und 2000 einen Bürgerkrieg. Diese 20 Jahre des Konflikts und der politischen Gewalt haben unser Land gespalten. Das Erbe der Kolonialisierung dauert immer noch fort und hat Spuren hinterlassen. Viele Narben des Krieges sind noch nicht verheilt.

Im Jahr 2013 wurde ich vom Goethe‑Institut und dem Internationalen Theaterinstitut (ITI) zu einer Hospitation am Maxim Gorki Theater in Berlin eingeladen. Als Beobachter verfolgte ich den kreativen Prozess des Kirschgartens von Anton Tschechow in einer von Nurkan Erpulat geleiteten Inszenierung. Der Regisseur, der türkischer Herkunft ist, verlieh der Inszenierung einen interkulturellen Fokus. Den Großteil des Ensembles bildeten türkischstämmige deutsche Schauspieler*innen. Außerdem stellten sie in ihrem Diskurs eine interkulturelle deutsche Gesellschaft dar, analog zum Original von Tschechow, die eine neue russische Gesellschaft abbildete, die sich teilweise aus den Nachfahren der Leibeigenen zusammensetzte, die sich gegen die Dekadenz der Oligarchen durchsetzten.

Ich erinnere mich daran, dass am Abend der Premiere ein Mitglied des Ensembles an mich herantrat und zu mir sagte: „Das ist nicht Tschechow.“ Ich hörte ihm einfach zu und dachte in diesem Moment: „Was ist Tschechow dann?“ Diese Frage gewann umso mehr an Kraft durch den Umstand, dass ich drei Monate vor Beginn der Proben im Gorki Theater die Gelegenheit gehabt hatte, nach Moskau zu reisen, um eine Inszenierung des Kirschgartens im legendären Tschechow‑Kunsttheater zu besuchen. Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht war. Die Inszenierung verfolgte einen traditionellen Stil, was nichts Schlechtes sein muss. Das Problem war, dass der Diskurs den Eindruck erweckte, am Anfang des 20. Jahrhunderts festzustecken.

Bei den Proben in Berlin hatten die Improvisationen der Schauspieler*innen hingegen nichts Herkömmliches an sich. Außerdem wurde die Figur Charlotta von einem queeren Performer türkischer Herkunft dargestellt, der in der Szene sehr anerkannt ist. Aus meiner persönlichen Sicht konnte diese Inszenierung auf tiefgründigere Weise vermitteln, was Tschechow in seinem Kontext zur Debatte stellte. Als ich nach Lima zurückkehrte, hatte sich mein Horizont als Regisseur zweifellos erweitert.

Ich möchte diese Erinnerung mit einer äußerst wertvollen Veranstaltung abschließen, die zwischen 2016 und 2017 stattfand. Es handelte sich um eine Zusammenarbeit zwischen dem Goethe‑Institut und der Universidad del Pacífico, die einen Schwerpunktkurs zum Thema Theater und Gedächtnis einführte. Im Rahmen des Kurses wurden die wichtigsten peruanischen Theoretiker*innen und Akademiker*innen sowie Gäste aus Deutschland eingeladen. Menschen, die daran interessiert waren, ihre Diskurse in Bezug auf ihre eigenen Erinnerungen und die Erinnerung an die im Bürgerkrieg erlebten Jahre der Gewalt zu reflektieren und zu artikulieren. Aus diesem Kurs gingen Stücke hervor, die zum ersten Mal eine vielschichtigere Beleuchtung dieses Abschnitts unserer Geschichte zeigten.

Im Laufe der Jahre hat das Goethe‑Institut einen Beitrag geleistet, der von der ständigen Artikulation und Reflexion über diverse künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen geprägt war und neue Fragen und Herausforderungen aufgeworfen hat. Ich feiere diesen 70. Jahrestag mit Begeisterung.

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