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ruanda
„Emanzipier dich oder stirb“

Epiphanie Mukashyaka
Foto (Detail): Espen Eichhöfer

Ruanda gehört weltweit zu den Vorreitern in Sachen Gleichberechtigung. Hatten die Frauen vor dem Genozid in dem afrikanischen Land kaum Rechte, erkämpften sie sich in den vergangenen 28 Jahren ihre Freiheit.
 

Von Barbara Achermann (Text) und Espen Eichhöfer (Fotos)

Ruanda im Jahr 1994. Hundert Tage lang werden Men­schen der Volksgruppe Tutsi gejagt, vergewaltigt und er­mordet. Die Täter sind bewaffnete Hutu-Rebellen, aber auch Zivilisten. Nachbarn töten Nachbarn, Lehrer erschla­gen ihre Schüler, Nonnen verbrennen Gläubige. Epiphanie Mukashyaka liegt auf der Erde und kann sich nicht rühren. Schock und Trauer haben ihren Körper gelähmt. Sie ist un­verletzt, aber ihr Mann ist tot und auch eines ihrer sieben Kinder. „Es roch nach verwesenden Leichen. Ich habe diesen Geruch noch immer in der Nase“, sagt Mukashyaka heute.

Während des Völkermordes von Ruanda wurden Schät­zungen zufolge knapp eine Million Menschen umgebracht. Mukashyaka erinnert sich, dass sie nicht wusste, wie sie weiterleben sollte, ohne ein Dach über dem Kopf und Tür an Tür mit den Mördern ihrer Liebsten. Erst Tage später habe sie sich gegen den Tod und für das Leben entschieden, „meinen Kindern zuliebe“.

Mit einer Tasse voll Hirse, abgespart von einer Notration der Caritas, begann sie, Bier zu brauen. Mit dem wenigen Geld, das sie damit verdiente, kaufte sie Kaffeebohnen, die sie gewinnbringend weiterverkaufte. Aus dem kleinen Han­del, den sie in Gikongoro, im Süden des Landes, in höchs­ter Not aufbaute, entstand mit den Jahren ein beachtliches Unternehmen. Gegenwärtig bezieht Epiphanie von mehreren Tausend Kleinbäuer*innen Kaffeebohnen, die sie in swim­mingpoolgroßen Becken wäscht und anschließend ins Aus­land exportiert.

Mukashyakas Biografie ist einzigartig. Und doch steht sie auch sinnbildlich für die Entwicklung der Frauen in Ru­anda. Das kleine Land, das wie ein Bauchnabel inmitten des afrikanischen Kontinentes liegt, hat einen beispiellosen Emanzipationsschub erfahren. Im Global Gender Gap Re­port, einem Bericht des World Economic Forum, der die Gleichstellung zwischen Mann und Frau in Zahlen fasst, liegt Ruanda seit Jahren an der Spitze, gleich hinter den skandinavischen Ländern, die bekannt sind für ihre vor­bildliche Gleichstellungspolitik. Auch 2021 lag das Land wieder weit vorne, auf Platz 7, Deutschland auf Platz 11.

Die aktuelle Situation ist beeindruckend. Noch beein­druckender ist aber die Geschwindigkeit, mit der sich Ru­anda zum Gleichstellungs-Champion entwickelt hat. Vor nur drei Jahrzehnten waren die Machtverhältnisse noch komplett anders, Frauen hatten kaum Rechte. Wie alle an­deren Ruanderinnen durfte auch Epiphanie Mukashyaka damals kein Land besitzen, nicht erben, keinen Kredit auf­nehmen. Die Schule besuchte sie nur kurz, mit 17 wurde sie zum ersten Mal schwanger. Ihr Platz war, wie in Ruanda üblich, im Haus bei den Kindern. Mukashyaka erzählt, dass sie sehr schüchtern und unselbstständig war und sich nicht ohne ihren Mann auf die Straße traute. „Ich hielt mich im­mer an seiner Hose fest“, sagt sie und schüttelt den Kopf, als verstehe sie die Frau nicht mehr, die sie einst war. Nach dem Tod ihres Mannes sei ihr klar geworden, dass sie jetzt kämpfen müsse: „Emanzipier dich oder stirb.“

Die meisten Männer waren tot, außer Landes geflohen, oder sie saßen im Gefängnis. Schätzungen gehen davon aus, dass unmittelbar nach dem Konflikt 70 Prozent der Bevöl­kerung weiblich waren. Nach Kriegsende verließen viele Frauen ihren Platz hinter dem Herd oder am Feuer, sie re­parierten Häuser, bestellten Felder, trieben Handel, grün­deten ein Unternehmen, wurden Ärztinnen oder machten eine politische Karriere. Es gibt ein Sprichwort in Ruanda, das lautet so: „When things get tough, women get tougher.“

Rasante Entwicklung nach dem Genozid

Es waren harte Zeiten, die Menschen hungerten, trauer­ten. Doch gerade jetzt durften die Frauen nicht schwach werden, sie mussten sich für ihre Rechte starkmachen. Und das gelang ihnen auch. Sie schlossen sich zu zahlreichen Organisationen zusammen, auch Mukashyaka war Mitglied einer Frauengruppe. Gemeinsam sorgten sie dafür, dass Frauen in die Übergangsregierung berufen wurden. 2003 gab sich das Land eine neue Verfassung. Von nun an wa­ren Frauen vor dem Gesetz gleichberechtigt. Ihr Potenzial, das über Generationen brachgelegen hatte, wurde endlich genutzt. Zahlen der Weltbank und der Vereinten Nationen belegen, dass sich Ruanda in den Jahren nach dem Geno­zid schneller entwickelt hat als jedes andere Land in Afrika. Über eine Million Menschen wurden aus der Armut befreit, und die Kindersterblichkeit sank von 23 auf aktuell 4 Pro­zent. Heute leiten Frauen vor allem die zahlreichen kleinen und mittelgroßen Unternehmen, aber auch in den Spitzen­positionen großer Konzerne sind sie stark vertreten – selbst im traditionell männerlastigen Finanzsektor: 6 von 16 Ban­ken werden von Frauen geführt.
RuandaFoto: Espen Eichhöfer

In Ruandas Parlament ist der Frauenanteil weltweit am höchsten, er beträgt 61 Prozent.

Bleiben die jungen Männer in Ruanda bei dieser Ex­press-Emanzipation auf der Strecke? Die Frage wird im Morgenradio diskutiert, in Onlineforen und im Debat­tierclub der Universität, den Liza Imbonabake leitet. Die Studentin trinkt in einem Straßenkaffee in der Haupstadt Kigali einen warmen Kakao und fasst die Pro- und Contra-Argumente zusammen. Wenn es um die Vergabe der be­gehrten internationalen Stipendien gehe, würden die Jungs benachteiligt. Sie müssen bessere Noten vorweisen als die Mädchen. Auch in einzelne Studienfächer wie Physik oder Informatik kämen Frauen leichter rein, denn dort gebe es Quoten. „Die Studenten bei mir an der Uni finden, das sei“, sie malt zwei Gänsefüßchen in die Luft, „unfair.“ Liza ist anderer Meinung, und sie wäre nicht Chefin eines Debat­tierclubs, wenn sie diese nicht eloquent begründen könn­te. „Die Jungs wurden jahrelang bevorzugt, und jetzt sind eben wir an der Reihe.“ Bis vor wenigen Jahren habe man Mädchen auf schlechtere Schulen geschickt, wenn sie über­haupt zur Schule gehen durften. „Während meine Brüder Hausaufgaben machten, kochte ich über dem Feuer Abend­essen oder wusch Wäsche, bis meine Hände schrumpelig wurden.“ Man müsse den Mädchen jetzt die Chance geben, diese verlorene Zeit aufzuholen.

Seit dem Kriegsende ist in Ruanda die RPF an der Macht, die Rwandan Patriotic Front. Die Partei war einst eine Rebellenarmee, gegründet von Tutsi und Regimegeg­ner*innen, die bereits vor dem Genozid nach Uganda ge­flüchtet waren. Dort hätten die Frauen wichtige Funktionen übernommen, sagt die Publizistin Louise Umutoni-Bower. „Die derzeitigen Vorstellungen von der Rolle der Frau, ins­besondere im öffentlichen Leben und in der Politik, stam­men aus dem Exil.“ Auch die RPF trieb die Emanzipation also entscheidend voran, zum Beispiel mit einer Frauenquo­te. In der Verfassung wurde festgehalten, dass Frauen zu mindestens 30 Prozent im Parlament vertreten sein müs­sen. Heute ist die Quote längst überflüssig, Frauen werden häufiger gewählt als Männer. In Ruandas Parlament ist der Frauenanteil weltweit am höchsten, er beträgt 61 Prozent. Heute denkt man über eine Männerquote nach.

Seit 2008 sind Frauen im Abgeordnetenhaus in der Mehrheit und haben dort ihren Einfluss geltend gemacht. Noch im selben Jahr wurde ein Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen verabschiedet, das unter anderem Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt. In der Folge kamen weitere Neuerungen dazu, wie etwa ein Mindestalter von 21 Jahren für die Eheschließung oder eine dreimonatige Mutterschafts­versicherung. Aktuell debattiert man darüber, den bezahlten Vaterschaftsurlaub von vier Tagen auf sechs Wochen zu ver­längern.

Auch in Ruanda gibt es sie: die alten Rollenbilder

Doch ganz so emanzipiert, wie es auf den ersten Blick scheint, sind die Parlamentarierinnen dann doch nicht. Sie alle folgen stramm der Regierungspartei RPF, keine von ih­nen würde es wagen, Präsident Paul Kagame zu kritisieren. Er legt die Leitplanken, bei ihm konzentriert sich die Macht. Um für eine dritte Amtszeit antreten zu können, ließ er die Verfassung ändern. Oppositionelle haben keine Chance auf politische Mitsprache, sie sitzen in den Gefängnissen oder verschwinden plötzlich. Auch die Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit ist stark eingeschränkt. Natacha Muzirama­kenga ist Kulturmanagerin und Performerin und eine der wenigen Ruanderinnen, die offen Kritik übt. Sie sagt: „Aus meiner Sicht dienen Frauen im Parlament noch immer der politischen Kosmetik.“

Tatsächlich gibt es in Ruanda einen Graben zwischen den Geschlechtern, den die Parlamentarierinnen noch nicht zuschütten konnten. Es sind, wie überall auf der Welt, die alten Rollenbilder. „Die kriegt man nicht von heute auf morgen aus den Köpfen“, sagt Jolly Rubagiza, Leiterin der Gender Studies an der University of Rwanda. Die Diskrimi­nierung der Frau, so Rubagiza, sei nicht in den Stammeskul­turen verwurzelt. Dort habe es zwar klare Aufgabenteilun­gen gegeben, aber kein Gefälle zwischen Mann und Frau. „Die Unterdrückung der Frau kam mit den Kolonialherren, denn diese bevorzugten Knaben und Männer, unterrichte­ten sie und bezahlten sie für ihre Arbeit.“ Vor allem in länd­lichen Gebieten sei das noch immer spürbar.

Ngororero ist einer der ärmsten Bezirke des Landes, drei Fahrstunden westlich von Kigali. Hier lebt Genereuse Uwu­muhoza mit ihrer Mutter und ihrer vierjährigen Tochter in einem Lehmhaus ohne Strom und fließend Wasser und bewirtschaftet ein kleines Stück Land. Die beiden Frauen und das kleine Mädchen gehören zu den 60 Prozent, die in Ruanda von weniger als zwei Euro am Tag leben. Sie müs­sen nicht hungern, ernähren sich aber häufig einseitig. Uwu­muhoza erzählt, dass die Grundschule zwar kostenlos sei. Aber weil ihre Mutter kein Geld mehr hatte für Bücher und Stifte, ging sie mit 13 Jahren nicht mehr hin. Stattdessen verbrachte sie die Tage in Spelunken, wo ihr Männer Fanta oder Bier spendierten. Sie fing an, ihren Körper an einen Nachbarn zu verkaufen, für umgerechnet 50 Cent. „Zum Glück wurde ich bald schwanger“, sagt sie. Sie machte eine Ausbildung zur Schuhmacherin und schloss sich einer Ko­operative an, wo sie zwischen zwei und vier Euro am Tag verdient, „gleich viel wie die Männer in unserer Gruppe“.

Es ist schwierig einzuschätzen, wie emanzipiert Uwu­muhoza heute lebt. Aber sie hat zumindest ein Bewusstsein für das Thema Gleichberechtigung. Die Kampagne der Re­gierung ist auch in ihren abgelegenen Weiler vorgedrungen. An der Wand in ihrem Haus hängt ein Faltblatt, das die Ge­meindeverwaltung verteilt hat. Es ist bereits etwas vergilbt, aber man erkennt immer noch, was die Illustrationen zeigen: Eine Ärztin erklärt einer Gruppe von Frauen und Männern verschiedene Verhütungsmethoden, ein Vater hilft seinem Kind bei den Hausaufgaben. Uwumuhoza erzählt, dass sie in der Schule ein Fach namens Gender hatten, wo sie lernte, dass auch Männer Hausarbeiten machen sollen. Selbst im Radio werde häufig darauf hingewiesen, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. „Ich finde das richtig“, sagt sie. Doch die Realität in ihrem Dorf sehe anders aus: „Wenn ein Mann beim Waschen oder Kochen hilft, dann heißt es bei uns, seine Frau habe ihn verhext.“

Der wirtschaftliche Boom ist der sichtbare Fortschritt in Ruanda. Die unsichtbare, aber mindestens so wichtige Entwicklung ist die Versöhnung zwischen Hutu und Tutsi. Sowohl in Ruanda als auch unter internationalen Wissen­schafter*innen ist man der Meinung, dass die Frauen das Land befrieden. Eine Studie der UNO stellt fest: „Sie kön­nen besser vergeben.“

Kaffeeexporteurin Epiphanie Mukashyaka formuliert es eine Nuance anders: „Wir mussten verzeihen.“ Die meisten Menschen, mit denen sie verkehrt, sind Hutu: ihre Nach­bar*innen, die Kaffeebäuer*innen, selbst ihre engste Assis­tentin. Während sie an einem steilen Hang die Kaffeepflan­zen eines befreundeten Bauern inspizieren, stützen sie sich gegenseitig, gehen Hand in Hand, eine Tutsi und eine Hutu. Sie vertraue ihrer Assistentin, sagt Mukashyaka später. Der Hass sei weg: „Damals hatten wir keine andere Wahl. Ent­weder du beschließt, zu vergeben, oder du wirst wahnsin­nig. Heute haben wir tatsächlich verziehen.“

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