28.08.2017: Urvashi Butalia, Emily Nasrallah und Irina Scherbakowa ausgezeichnet
Goethe-Medaille in Weimar verliehen

Die indische Verlegerin Urvashi Butalia, die libanesische Schriftstellerin Emily Nasrallah und die russische Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa wurden am 28. August mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Das Goethe-Institut verleiht das offizielle Ehrenzeichen der Bundesrepublik jedes Jahr an Persönlichkeiten, die sich um den internationalen Kulturaustausch verdient gemacht haben. Der Präsident des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann würdigte das große Engagement der drei Preisträgerinnen, die sich mutig und entschlossen gegen Ungleichbehandlung einsetzen.

„Unsere drei diesjährigen Preisträgerinnen setzen auf das Wort und die Freiheit und nutzen dafür ihre schriftstellerische Kraft. Ihre Waffe ist die Sprache! Sie geben den stumm gemachten und vergessenen Menschen eine Stimme“, sagte Klaus-Dieter Lehmann anlässlich der Auszeichnung von Urvashi Butalia, Emily Nasrallah und Irina Scherbakowa. Ihre schriftstellerische Arbeit enthalte die Botschaft: „Erinnert Euch, vergesst uns nicht, unterstützt uns". Lehmann betonte weiter: „Alle drei Preisträgerinnen haben ihren ganz eigenen Lebensverlauf und ihre kulturelle Prägung, alle drei kommen aus ganz unterschiedlichen Weltregionen – und doch eint sie eine gemeinsame Grundüberzeugung: der Kampf gegen Ungleichbehandlung und für Menschenrechte, gegen Gewalt und für Gleichberechtigung und freie Entfaltung, gegen Repression und für Emanzipation. Es ist der Kern der Humanität, für den diese drei Frauen sich mutig und entschlossen einsetzen, dem sie ihr Leben widmen.“

Die Soziologin Christa Wichterich betonte in ihrer Laudatio auf Urvashi Butalia die verlegerische Pionierarbeit, die diese geleistet habe: „Sie spricht nicht für andere, sie will andere nicht repräsentieren, sondern vor allem denjenigen eine Stimme geben, die am Rande der Gesellschaft stehen, den Verletzten und Verletzlichen, die nicht zu Wort kommen, zum Schweigen gebracht wurden oder bewusst schweigen." Wichterich weiter: „Urvashi sieht sich im Westen häufig mit Bemerkungen konfrontiert, dass es sehr schwierig für eine Frau in Indien sein muss, Verlegerin zu sein. Sie antwortet, dass es nirgendwo ein Deckchensticken ist, einen kleinen feministischen Verlag zu betreiben. Mitleid braucht sie nicht. Sie ist unbeirrbar, mit Emphase und Neugier im positiven Sinne besessen davon, das Private mit gesprochener und geschriebener Sprache zum Politikum zu machen."

Die Journalistin Emily Dische-Becker hob die Aktualität von Emily Nasrallahs Texten hervor: „Die Entwurzelung, durch freiwillige und unfreiwillige Abschiede, begegnet uns in Nasrallahs Werk immer wieder. Es geht ihr um den Schmerz der Zurückgelassenen, und um die Entfremdung jener, die gegangen sind, jetzt an einem neuen Ort leben und nicht mehr zurückkehren können. Diese Vertreibung ist ein essentieller Bestandteil der libanesischen Kollektiverfahrung, die gerade in Anbetracht der Massenvertreibung im benachbarten Syrien an neuer Bedeutung gewinnt." Discher-Becker weiter: „Es erfordert viel Mut, über das eigene Zuhause, die eigene Heimat, so zu schreiben wie Emily Nasrallah: Ehrlich, aber auch mit Zuneigung verflechtet sie die intimsten Winkel von Gebräuchen mit den Enttäuschungen und Opfern, die Frauen ertragen müssen."

Marianne Birthler, frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, würdigte in ihrer Laudatio das Engagement von Irina Scherbakowa: „Sie hat die schwerste und wichtigste Aufgabe gewählt, die auf dem Weg einer Gesellschaft in die Freiheit zu erfüllen ist. Sie bringt zur Sprache, was verschwiegen wurde und bis heute verschwiegen wird. Sie hilft, Erfahrungen von Mythen zu unterscheiden, Wahrhaftigkeit von Lüge, Tatsachen von Legenden. Sie steht denjenigen bei, die nach Worten für ihre verschütteten Erinnerungen und ihr Leid suchen, ist ihnen nahe, wenn sie es noch einmal durchleben, und geht respektvoll und dankbar mit dem Gehörten um."

Die Verleihung der Goethe-Medaillen im Residenzschloss Weimar fand in Anwesenheit des Ministers für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chefs der Thüringer Staatskanzlei Benjamin-Immanuel Hoff und des Oberbürgermeisters der Stadt Weimar Stefan Wolf statt.

Urvashi Butalia, geboren 1952, studierte in Neu-Delhi Literatur und in London Südasienwissenschaften. Sie lehrt seit über zwanzig Jahren an der Universität, momentan an der Universität Ashoka in der Nähe von Neu-Delhi. 1984 gründete sie das erste feministische Verlagshaus Indiens, Kali for Women. Daraus entstand 2003 der Verlag Zubaan („Zunge, Sprache, Stimme“), der auf Frauenrechte, Gender und sozialwissenschaftliche Themen spezialisiert ist. In der Reihe Young Zubaan publiziert sie Kinder- und Jugendbücher, die sich mit Themen auseinandersetzen, die in Indien meist tabuisiert werden, wie beispielsweise alternative Lebens- und Familienmodelle, Behinderung, Tod oder Fanatismus. Ohne direkt politisch tätig zu sein, ist Urvashi Butalia doch landesweit dafür bekannt, die Rechte von Minderheiten mit starker Stimme einzufordern und die jüngere indische Vergangenheit aufzuarbeiten. Seit 1997 veröffentlicht sie regelmäßig Artikel in Lettre International zur Lage der Frauen und zu sozio-politischen Entwicklungen in Indien sowie zur Erinnerungskultur nach der Teilung Indiens im Jahr 1947. Ihr Buch „The Other Side of Silence: Voices from the Partition of India“ (2000) ist eine der wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema. Es dokumentiert anhand von Interviews mit Zeitzeugen, wie diese die politische Teilung Indiens, bei der etwa eine Million Menschen starben, erlebt haben.

Emily Nasrallah gehört zu den bekanntesten Schriftstellerinnen der arabischen Welt. Sie wurde 1931 geboren und wuchs in einer christlichen Familie in einem Dorf im Südlibanon auf. Nach ihrem Studium der Erziehungswissenschaften in Beirut arbeitete sie zunächst als Lehrerin, dann als Journalistin und freie Schriftstellerin. 1962 debütierte sie mit dem Roman „Touyour Ayloul“ („Septembervögel“), der mit drei arabischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Neben Romanen, Essays und Erzählbänden für Erwachsene veröffentlichte Emily Nasrallah auch sieben Kinderbücher. Im Zentrum ihrer Texte stehen das Dorfleben im Libanon, Emanzipationsbestrebungen der Frauen, Identitätsfragen im libanesischen Bürgerkrieg und Migrationserfahrungen. Als im Libanon ab 1975 für mehr als fünfzehn Jahre Bürgerkrieg herrschte, wurden ihre Romane und Erzählungen zu Hilferufen aus einer zerfallenden Gesellschaft. In ihrem bekanntesten Kinderbuch „Yawmiyyat Hirr“(„Kater Ziku lebt gefährlich“, 1998) schildert sie den Kriegsalltag im umkämpften Beirut aus dem distanzierten Blickwinkel eines Katers. Obwohl ihre Besitztümer mehrmals vollständig Bombenangriffen zum Opfer fielen, weigerte sich Emily Nasrallah, selbst ins Exil zu gehen. Ihr Roman „Septembervögel“ gilt heute als Klassiker der arabischen Literatur und gehört im Libanon zur Schullektüre.

Die Historikerin Irina Scherbakowa, geboren 1949 in Moskau, ist Publizistin und Übersetzerin. Ende der 1970er Jahre begann sie, Tonbandinterviews mit Opfern des Stalinismus zu sammeln, seit 1991 forscht sie in den Archiven des KGB. Irina Scherbakowa ist Gründungsmitglied von „Memorial", die 1988 gegründete erste unabhängige, zivilgesellschaftliche Organisation der Sowjetunion. Mit „Memorial" setzt sie sich für die Aufklärung der sowjetischen Repression und den Schutz der Menschenrechte im heutigen Russland ein. Im Oktober 2016 wurde „Memorial" durch das russische Justizministerium auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt. Irina Scherbakowa ist Leiterin der Jugend- und Bildungsprogramme, koordiniert Oral History-Projekte sowie den alljährlichen, landesweiten Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“. Als Autorin und Herausgeberin hat Irina Scherbakowa zahlreiche Bücher zu den Themen Stalinismus und Erinnerungskultur veröffentlicht, viele davon sind in deutscher Sprache erschienen. Große Beachtung fand zuletzt das gemeinsam mit dem deutschen Osteuropa-Historiker Karl Schlögel verfasste Dialogbuch „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ (2015).

Über die Goethe-Medaille
Die Goethe-Medaille wurde 1954 vom Vorstand des Goethe-Instituts gestiftet und 1975 von der Bundesrepublik Deutschland als offizielles Ehrenzeichen anerkannt. Die Goethe-Medaille wird zum Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe, am 28. August, verliehen. Seit der ersten Verleihung 1955 sind insgesamt 344 Persönlichkeiten aus 65 Ländern geehrt worden. Zu den Preisträgern gehören unter anderen Daniel Barenboim, Pierre Bourdieu, David Cornwell alias John le Carré, Sir Ernst Gombrich, Lars Gustafsson, Ágnes Heller, Petros Markaris, Sir Karl Raimund Popper, Jorge Semprún, Robert Wilson, Neil MacGregor, Helen Wolff oder Juri Andruchowytsch.

Die Verleihung der Goethe-Medaille 2017 wird in enger Partnerschaft mit der Klassik Stiftung Weimar und der Stadt Weimar veranstaltet. Das Gespräch mit den drei Preisträgerinnen ist eine Kooperation mit dem Kunstfest Weimar. Der Diskussionsabend mit Irina Scherbakowa und Karl Schlögel ist ebenfalls eine Kooperation mit dem Kunstfest Weimar und wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.

Pressefotos können Sie per E-Mail anfragen bei:
magda.loeb.extern@goethe.de

Am Nachmittag des 28. Augusts 2017 sind Fotos der Verleihung hier verfügbar:
www.goethe.de/bilderservice

Hier finden Sie die Pressemappe zum Download:
www.goethe.de/pressemappe/goethe-medaille

Umfangreiche Informationen zur Goethe-Medaille finden Sie außerdem unter:
www.goethe.de/goethe-medaille

Kontakt:

Magda Löb
Kommunikation „Goethe-Medaille“
Goethe-Institut Hauptstadtbüro
Tel.: +49 176 64240666
Magda.loeb.extern@goethe.de

Dr. Jessica Kraatz Magri
Pressesprecherin und
Bereichsleiterin Kommunikation
Goethe-Institut Zentrale
Tel.: +49 89 15921 249
Jessica.KraatzMagri@goethe.de

Viola Noll
stv. Pressesprecherin
Goethe-Institut Hauptstadtbüro
Tel.: +49 30 25906 471
noll@goethe.de