1. Juni 2016
Eröffnung Kultursymposium Weimar

Rede von Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann zur Eröffnung des Kultursymposiums Weimar

Anrede,

Herzlich Willkommen in Weimar, der realen und symbolischen Stadt der Kultur und der Bildung. Es ist ein Ort, der international nicht nur den prägenden Klang der Klassik und der Romantik hat – heute fokussiert in der Klassikstiftung - , sondern mit der Bauhausbewegung die Architektur der Moderne geschrieben hat und der der ersten Demokratie Deutschlands mit der Weimarer Republik ihren Namen gegeben hat.

Heute ist Weimar neben seinem kulturellen Erbe Wissenschaftsstandort mit mehreren Hochschulen, verfügt über ein Nationaltheater mit einem international anerkannten Kunstfest. Das Goethe-Institut verleiht alljährlich die renommierte Goethe-Medaille für Verdienste im internationalen Kulturaustausch.

Weimar wird jetzt der Ort für ein großes anspruchsvolles Kulturfestival, das drei Tage lang in 75 Einzelveranstaltungen an 15 Spielstätten stattfindet und das Thema „Teilen und Tauschen“ behandelt und verhandelt. Warum ein solcher Aufwand für ein solches Thema? Was treibt die Organisatoren an?

Die Gesellschaft steht derzeit vor einem tief greifenden Wandel, der durch den eng zusammenhängenden Komplex von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik und zusätzlich durch die Beschleunigung der neuen Kommunikationstechnologien bedingt ist. Während früher das marktwirtschaftliche System meist nur ein Segment des Lebens betraf, nämlich die Produktion von Waren und Dienstleistungen, so erleben wir zunehmend Übersprungeffekte im großen Stil auf alle Lebensbereiche. Man kann von einem umfassenden Funktionalismus sprechen. Das gilt für die Medien, den Sport, die Kunst, die Freizeit und Kultur und so weiter. Alles hat sich dem Nützlichen und Gewinnbringenden unterzuordnen. Die marktwirtschaftlichen Prinzipien des Wettbewerbs und das Gesetz des return on investment steuern auf einen universalen Funktionalismus mit einer ausschließlichen Gewinnorientierung zu. Jürgen Habermas spricht von einer Kolonialisierung der Lebenswelten. Es besteht die deutliche Gefahr, dass solche Denkmuster die Prinzipien einer Solidargemeinschaft gefährden, die Reichen sich nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen, das Vertrauen in politische Systeme schwindet und eine unzureichende Integrationspolitik zusätzlich Verunsicherung schafft, ganz zu schweigen von den Effekten einer globalisierten Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Verselbständigung von Sachzwängen oberhalb der politischen Entscheidungsmöglichkeiten ist eine weitere Einengung gesellschaftlicher Frei- und Gestaltungsräume. Die intransparente Verhandlungsform des Freihandelsabkommens TTIP ist dafür nur ein prominentes Beispiel.

Gibt es also noch weiße Flecken auf der Landkarte unseres Lebens, die noch nicht funktionalistisch besetzt sind? Gibt es Bereiche, die noch nicht beherrscht werden vom Kalkül des Gewinns? Muss eine Zivilgesellschaft nicht gerade jetzt Einfluss nehmen, um geeignete Voraussetzungen für unser Zusammenleben zu ermöglichen, um Solidarität, gesellschaftliche Verantwortung und partizipatives Verhalten zu fördern?

Unser menschliches Leben ist in erster Linie eine kulturelle Leistung. Deshalb lohnt es sich, gesellschaftliche Auseinandersetzungen durch eine kulturelle Annäherung zu betreiben.

Teilen und Tauschen könnte eine solche Annäherung sein, nicht zuletzt deshalb, weil sie auf einer kulturellen Perspektive beruht. Ein Allheilmittel wird Teilen und Tauschen trotzdem nicht sein. Aber das Thema eröffnet aufgrund seiner verschiedenen Aspekte  Alternativen, Prozesse und eine neue Aufmerksamkeit.

Worum geht es? Geht es um ein gesellschaftliches Umdenken, um eine Modeerscheinung, um neue Ökonomie-Modelle oder um den Bericht zu vormodernen oder spätmodernen Gesellschaften, um Grundfiguren menschlicher Kommunikation, oder gar um Utopien oder Visionen oder Doktrine?

Während die einen die Sharing Economy im Kopf haben – AirBnB, Uber, Car Sharing oder Couchsurfing, sehen die anderen das Abdanken des homo oeconomicus mit seinem eigennützigen Gewinnstreben zugunsten eines sozialen Verhaltens, das ein nachhaltiges Wirtschaften und eine gerechtere Verteilung von Gütern ermöglicht.  Man kann sich vieles vorstellen, man kann auch über vieles reden.

Dieser Versuchung wollen wir widerstehen. Deshalb konzentrieren wir uns auf ein Thema, das aus allen erdenklichen Perspektiven betrachtet wird. Gewidmet wird es den ökonomisch-anthropologischen Phänomenen des Teilens und Tauschens, interpretiert wird es nicht aus wirtschaftswissenschaftlicher, sondern aus kultureller Perspektive. Die Beschäftigung mit der Wirtschaft nur aus der wirtschaftswissenschaftlichen Sicht wäre zu eingeschränkt. Die Perspektive von außen ist dagegen deshalb spannend, weil Wirtschaft ohne Kultur unverständlich bleibt.

Das Prinzip des Tausches betrifft in erster Linie soziale Aspekte. Die Ökonomie war nicht die Basis, sondern die Folge von Tauschverhältnissen. Der Tausch von Gütern führt dazu, dass ein soziales Band innerhalb der Gesellschaft geschaffen wird, der für den Zusammenhalt innerhalb und zwischen den Gemeinschaften sorgt.

An sich erfüllt das Geld heute eine ähnliche Funktion: indem es zirkuliert, schafft es Verbindungen. Doch vielleicht macht man sich beim monetären Tausch die Illusion, man könne sich dem Prinzip der Gegenseitigkeit entziehen. Gerade die Eurokrise zeigt, wie sehr auch die moderne Wirtschaft unter dem Gesetz der Gegenseitigkeit steht. Aber auch Monopolisten wie Apple oder Amazon sollten sich klar werden, dass ihre Gewinne aus Kollektiven generiert werden und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft bestehen.
Wenn die Ökonomie es wagt, mit wirtschaftlichen Analysen alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens zu erklären, dann kann es umgekehrt von Interesse sein, die Ökonomie anthropologisch oder kulturell zu betrachten.  

Dazu kommen die am internationalen Diskurs beteiligten führenden Denker in den nächsten drei Tagen hier in Weimar zusammen, aber auch bewusst junge Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler und Politiker. Sie debattieren und denken darüber nach, kommen mit uns ins Gespräch, ob und wie eine Gesellschaft durch Teilen und Tauschen zukunftsfähig werden kann, wie gleichberechtigte Verständigung darüber stattfinden kann und welche Chancen eine Gesellschaft der Gaben hat.  Ist das eigennützige, kühl kalkulierende Individuum der Prototyp der modernen Gesellschaft, das nahezu alles menschliche Handeln vom Gewinnstreben leiten lässt oder ist es doch eher so, dass sich Menschen im Allgemeinen nicht rational im Sinn einer größtmöglichen Besitzvermehrung verhalten. Für beide Auffassungen gibt es Belege, die Gier der Reichen nach Mehr, die Bereitschaft der vielen, Menschen teilhaben zu lassen, etwa bei der Eingliederung von Flüchtlingen.

In den kommenden Tagen werden wir also Wirtschaft als Teilsystem von Kultur betrachten und ganz konkret Vorgänge des Teilens und des Tauschens in buchstäblich aller Welt untersuchen – als kulturelle Haltung. Dabei interessiert weniger der Wert der getauschten Güter, sondern mehr die Bedeutung, die dem Tauschvorgang selbst beigemessen wird. Vielleicht entdecken wir hinter dem Trend zum Teilen die Suche nach Begegnungen ohne kommerzielle Vorzeichen. Vielleicht entdecken wir „Hans im Glück“ oder St. Martin mit dem geteilten Mantel.

Warum nimmt sich gerade das Goethe-Institut dieses Themas an. Da ist zum einen das Goethe-Netz, das mit seinen 160 Instituten in fast 100 Ländern nahe am Geschehen ist und die aktuellen Entwicklungen in der Welt kennt und damit wertvolle Beiträge zum Diskurs in Deutschland leisten kann. Eine Auswahl von Goethe-Instituten war bereits in einer Vorphase des Kultursymposiums mit lokalen Projekten eingebunden, um partizipative Modelle zu erkunden, den Zusammenhang kultureller, wirtschaftlicher und politischer Sichtweisen konkret zu belegen, die verschiedenen Praktiken in europäischen und außereuropäischen Kulturkreisen zu untersuchen.
Einige Beispiele dieser Runden Tische an Goethe-Instituten im Ausland will ich nennen:
  • Porto Alegre: Experten aus Deutschland, Brasilien und Argentinien diskutierten alternative Wirtschaftsmodelle und sprachen ganz konkret über die Implementierung einer alternativen Währung im Stadtteil Floresta in Porto Alegre. Joseph Vogl, Ricardo Orzi und Aktivisten der Vila Flores nehmen in Weimar teil.
  • Wellington: Es ging insbesondere um die Frage des Teilens unterschiedlicher kultureller Traditionen in Neuseeland. Alex Lee ist hier in Weimar.
  • Jakarta: Es wurden Traditionen und Initiativen in Indonesien vorgestellt und diskutiert. Erlin Goentoro wird daraus die c20library hier vorstellen und Putri Santanu „Sharing and Wapping-Model in Traffic.
  • New York: Soziale Unternehmer, Genossenschaftler, Designer, Arbeitsrechtler und IT-Experten entwickelten Plattformen eines nutzerorientierten und kooperativen Internet, das in der eigenen Verantwortung liegt. Emma Yorra, Brendan Martin und Trebor Scholz zeichnen verantwortlich für die „Platform Cooperativism“. Trebor Scholz präsentiert sie in Weimar.
  • Abidjan: Das Sparmodell „Tontine“vereint Menschen, die im informellen Rahmen gemeinsam Geld sparen und an ihre Mitglieder im Rotationsprinzip ausschütten. Grundlegend für das Modell sind gegenseitiges Vertrauen und selbstauferlegte Regeln einzuhalten. In Weimar werden die ivorischen Soziologen Alain Toh und Papa Sow über Tontine diskutieren.

Das sind einige kurze Schlaglichter aus einer Vielzahl von Aktivitäten der Institute im Vorfeld des Kultursymposiums.

Diese Erfahrungen werden für das Symposium in unterschiedlicher Weise genutzt. Welche kulturellen Werte verbinden sich mit der Praxis des Teilens und Tauschens? Welche ideologischen, religiösen und emotionalen Motive liegen dem Handeln zugrunde? Welche Bedeutung hat Teilen und Tauschen für die Gesellschaft und wie funktionieren sie, sind sie quasi gesetzt oder bedarf es jeweils eines Regelwerks? Welche Rolle spielen dabei technologische und mediale Veränderungen? Welche Netzwerke bestehen, welche entstehen neu? Das sind einige der Fragen, die in konkreten Versuchsanordnungen untersucht wurden.

Wesentlicher aber ist letztlich die Arbeitsweise der Goethe-Institute in der Welt selbst. Und diese Arbeitsweise hat direkt etwas mit unserem Thema zu tun.

Ralf Dahrendorf hat einmal zur auswärtigen Kulturpolitik gesagt: „Wir sollten so viel geben, wie wir bereit sind zu nehmen.“ Das beschreibt eine Gesellschaft des Teilens und Tauschens und es beschreibt damit die Arbeit des Goethe-Instituts. Das Prinzip ist einfach: eine Gabe muss angenommen und erwidert werden. Die Goethe-Institute arbeiten so. Sie arbeiten partizipatorisch, dialogisch, diskursfähig. Geben und Nehmen ist ihr Grundprinzip. Dadurch werden das Eigene und das Andere definiert. Die Begegnungen und der Austausch sind durch Gegenseitigkeit geprägt, durch Offenheit, Wertschätzung und Nachhaltigkeit. Die Gaben, um die es geht, sind immaterielle Güter. Es sind Kulturgüter, Gedanken, Ideen, Erfahrungen, die ausgetauscht werden und die zu einer entsprechenden Kohäsion führen. In den Kulturgütern, ob Literatur, Theater, Kunstwerke oder Musik ist, wie in den Gaben der archaischen Gesellschaften, „unser Selbst“ enthalten. Sie zirkulieren in der Gewissheit, dass sie zurückgegeben werden, auch zeitversetzt. Sie haben sich dabei verändert, sind umgeben von der „Magie und der geistigen Macht“, die sie sich unterwegs angeeignet haben.

Goethe-Institute sind nicht Institute für einen Export ihrer Kulturgüter, der sich nur am Geben in eine Richtung orientiert sondern sie nehmen das Fremde auf. Sie setzen sich bewusst dem Anderen aus und sind bereit zum Austausch. Das verändert sie. Aber genau das ist praktizierter interkultureller Dialog. Dafür ist es notwendig, das hierarchische Denken zu überwinden und die Kulturen vergleichend und nicht vermessend und bewertend nebeneinander zu sehen. Es ist also ein Wechselspiel des Erlebens, der Erfahrungen und der Reflexion. Wie antworten Andere auf die gleichen Grundfragen des Lebens, wie bewerten sie unsere Antworten, welche Fragen versäumen wir, welche die Anderen, welche kommen überhaupt nicht vor. Teilen und Tauschen ist auch beim Kulturaustausch weitaus komplexer als es zunächst den Anschein hat, weil es jeweils unterschiedliche Prägungen gibt. Was genau wird getauscht? Schafft der Tausch das Vertrauen oder setzt er es voraus? Was kann das Ergebnis des Tausches sein? Gibt es kulturübergreifende Kulturgüter, die gemeinhin geteilt werden?

Eine besondere Dringlichkeit hat die Frage „Was sind wir bereit zu teilen“ im Zusammenhang mit Flucht und Migration bekommen. Hier geht es unter anderem um das unerwiderte Geben. Flüchtlinge wollen nicht nur als Hilfsbedürftige gesehen werden, sie wollen an der Gesellschaft teilhaben und sich einbringen. Willkommenskultur als Einstieg in die Gesellschaft, ja. Aber sie genügt nicht, sie muss abgelöst werden durch Teilhabe. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet füreinander Verantwortung zu übernehmen und bereit zu sein, mit dem Dialog praktikable Konzepte umzusetzen und damit den Geflüchteten die aktive Teilhabe zu eröffnen. Die Gabe trägt in sich die Pflicht zur Erwiderung. Das ist die Perspektive!

Teilen und Tauschen – Alexander von Humboldt hat es kurz und bündig so formuliert: „Alles ist Wechselwirkung“. Und Wilhelm von Humboldt beschreibt die Beziehungen zwischen den Menschen so: „Des Menschen Wesen ist es, sich zu erkennen in einem Anderen.“ Diesem Erkenntnisprozess wollen wir in den folgenden Tagen näher kommen.
 
Es gilt das gesprochene Wort.